Dr. B. Unckel über Philosophie

Das Philippinum und die Marburger Philosophie

Dieter Henrich erinnert an Wilhelm Anz

 von Dr. Bernhard Unckel (ehemaliger Schüler und Lehrer am Philippinum)

„Plato und die Dichter“ – so lautete das Thema eines Vortrages, zu dem der „Verein der Freunde des humanistischen Gymnasium“ im Januar 1934 in die Aula des Marburger Gymnasium Philippinum geladen hatte(1).

Vortragender war Hans-Georg Gadamer, Privatdozent der Philosophie an der Universität Marburg, und seine Zuhörer interessierte Bürger, Professoren und Studenten, Lehrer und Schüler, auch der Vorsitzende des Vereins, der Theologe Rudolf Bultmann, und der Direktor der Schule, Kurt Steinmeyer. Arthur Henkel, einem Abiturienten des Jahres 1934 und später bedeutendem Professor der Germanistik, verdanken wir eindrückliche Erinnerungen an Gadamer und dessen Vortrag; und Gadamer selber hat in seiner Rückschau „Philosophische Lehrjahre“(1977) über den Vortrag und den Verein berichtet(2).

Der Verein bot, wie Gadamer bezeugt, einen wichtigen Rahmen akademischer Geselligkeit in Marburg, nachdem mit der Gleichschaltung der Universität durch die Nationalsozialisten andere Formen der Geselligkeit beseitigt worden waren. Bedeutende Gelehrte wie der Altphilologe Karl Reinhardt, der Germanist Max Kommerell oder der Philosoph Karl Löwith sprachen vor diesem Forum über Themen aus der Philosophie und der Literatur, vorwiegend der Antike und des 18. und 19. Jahrhunderts.

 Dieter Henrich, Jahrgang 1927, Schüler des Gymnasium Philippinum zwischen 1937 und 1946, später Professor der Philosophie an amerikanischen und deutschen Universitäten, zuletzt an der Universität München, hat im Rückblick von einer spezifischen Konstellation an der Marburger Universität in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts gesprochen und auch das Gymnasium Philippinum in diesem Kontext gesehen(3). Der Theologe Rudolf Bultmann und der Philosoph Martin Heidegger standen im Zentrum der Konstellation. Diese war nach Henrichs Ansicht keine „Schule“, in der sich Schüler um ihre Lehrer scharen und deren Lehre weitertragen. Sie war ein immer neues Gespräch, von Bultmann und Heidegger in je verschiedener Weise immer wieder neu angestoßen, erwachsen aus der Überzeugung, dass der Erste Weltkrieg das Ende des Alten Europa bedeutete, den „Abschied von einer Epoche“ (S. 30) und damit die Notwendigkeit, neue Wege zu suchen für eine „Diagnose der Gegenwart und die Befindlichkeit des Menschen in ihr“(ebd.). Hannah Arendt, Hans Jonas, Jacob Klein, Max Kommerell, Gerhard Krüger, Karl Löwith und auch Leo Strauss, ein Schüler des Gymnasium Philippinum (Abitur 1917) (4) – das sind nur einige der vielen, die die Marburger Konstellation suchten, aus dem Wunsch, auf die Fragen nach der Situation des Menschen im Angesicht der Krise Antworten zu finden, in den Seminaren und Vorlesungen eines Rudolf Bultmann, eines Martin Heidegger oder Hans-Georg Gadamer, oder auch bei den Romanisten Erich Auerbach und Werner Krauss. Bultmann und Heidegger waren, so urteilt Henrich, „wirkliche Revolutionäre im Denken, und zwar auf der höchsten Stufe von Qualität und Denkenergie“(S. 32). Heideggers „Sein und Zeit“ (1927) und Gadamers „Wahrheit und Methode“ (1960) sind bleibende Zeugnisse dieser Denkenergie.

Die Antworten, die Professoren und Studenten auf ihr Suchen und Fragen fanden und zum Ausgangspunkt ihres Denkweges machten, konnten unterschiedlicher nicht sein. Gemeinsam war ihnen allen freilich, nach Henrichs Überzeugung, der bildungsbürgerliche Hintergrund, ein Vertrauen in die „Verlässlichkeit“ der Bildung: „ … keiner dachte an Proletkult, an ein neugermanisches Heidentum oder an die Wiederkehr der homerischen Götter. Befreit vom kaiserlichen Glanz und Schimmer, über Krieg und Revolution beraubt der bürgerlichen Saturiertheit und durch die Inflation auch ihrer Vermögen – aber immer noch identifizierten sie die Philosophie mit der Bildungswelt und der ihr gemäßen Lebensführung, wenn auch unter ganz neuen Lebensbedingungen und Perspektiven des Denkens“ (S. 33).

 Dieter Henrich hat seine Betrachtungen zur Marburger Konstellation im Jahre 2006 formuliert. Anlass war eine Tagung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach zur „Marburger Hermeneutik zwischen Tradition und Krise“. Der Tagungsband wurde von Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow besorgt(5). Er enthält eine Reihe von Aufsätzen über die führenden Köpfe der Marburger Konstellation (6) sowie ein langes Gespräch der beiden Herausgeber mit Dieter Henrich. Darin teilt dieser nicht allein seine Überlegungen zur Marburger Konstellation und deren Bedeutung für die Philosophie des 20. Jahrhunderts mit. Er berichtet auch über den eigenen Weg, den Weg des Schülers durch das Philippinum (1937 bis 1946), den Weg des Studenten und späteren Professors der Philosophie, über die Freundschaft mit Hans-Georg Gadamer, Arthur Henkel, Gerhard Krüger und Karl Löwith, und nicht zuletzt über seinen Lehrer Wilhelm Anz – ein Bericht über Einsichten und Erfahrungen auf dem Weg zu einer eigenen Philosophie, einer Philosophie der Subjektivität(7).

Zwischen dem Philippinum und der Marburger Konstellation gab es einige Brückenschläge, natürlich durch den „Verein der Freunde des humanistischen Gymnasium“ und dessen Vorsitzenden Rudolf Bultmann (8), auch durch bedeutende Lehrer wie Günther Zuntz (9), einen Freund Gadamers, oder auch durch den Schulleiter Kurt Steinmeyer, dessen Bildung und Humanität gerühmt wurden, er war mit Bultmann, Gadamer, Krüger und auch Erich Auerbach freundschaftlich verbunden(10). Für Henrich aber war es vor allem sein Deutschlehrer, Wilhelm Anz, der ihn geprägt hat. Durch ihn hat er, wie er immer wieder betont, „am meisten von der Atmosphäre der Marburger Konstellation aus den zwanziger Jahren aufgenommen“(S.13). Anz, ein Schüler Heideggers und bedeutender Kenner der Werke Soeren Kierkegaards, stand in enger Beziehung zu Steinmeyer, Gadamer und Gerhard Krüger. Er war neu im Kollegium, als Henrich in das Philippinum kam. Die Nationalsozialisten hatten seine Entlassung aus dem Schuldienst in Ilfeld (Südharz) bewirkt. Auf Betreiben Steinmeyers und wohl auch durch Fürsprache Bultmanns hatte er im Philippinum eine neue Stelle erhalten. Seine Fächer waren: Deutsch, Ev. Religion und Griechisch. Zu ihm entwickelte Henrich sogleich eine „Art Liebesbeziehung“ (S.13), eine tiefe Verehrung, die bis zum Tode von Anz (und darüber hinaus) lebendig bleiben sollte(11).

 Im Philippinum gab es nicht wenige Lehrer, die in den Traditionen des wilhelminischen Deutschlands lebten und ihren Unterricht mit monarchistischem Pathos erfüllten. In solcher Atmosphäre musste ein Wilhelm Anz immer ein wenig fremd bleiben. Er lebte eine „eigentlich geistige Lebensführung“(S.19). Mit seinem ganzen Habitus, mit der Auswahl der Texte und deren Interpretation machte er seinen Unterricht zu einer Einführung in die Philosophie. In seiner Person war, so will es Henrich im Rückblick erscheinen, die protestantische Theologie ebenso gegenwärtig wie die Philosophie, Bultmann ebenso wie Heidegger und Kierkegaard, Gadamer oder Krüger, dem Anz besonders nahe stand (vgl. S.20). Mit der Konzentration auf die Grundfragen der menschlichen Existenz konnte Anz für Henrich nach dessen eigenem Bekunden zum Vorbild des Denkens und Handelns als Lehrer und Philosoph werden.

 Selbstverständlich hat der Nationalsozialismus auch das Leben im Philippinum bestimmt, durch die zahllosen Weisungen der Regierung, durch die allgegenwärtige HJ, wie auch durch einige (wenige) Lehrer, die der NSDAP und dem NSLB (Nationalsozialistischer Lehrerbund) angehörten. Auch Dieter Henrich hat sich damit auseinander setzen müssen. Das berichtet er in sehr persönlichen Erinnerungen und zieht schließlich folgendes Resümee: „Die Schule war überhaupt nicht nazistisch. Es war wirklich ein sehr lokales Wunder, dass es das gab. Es gab kaum einen Parteigenossen unter den Lehrern, und bestimmt ging von ihnen keine Indoktrination aus. Allerdings gab es auch keine Aufklärung. Was es gab, waren unterschiedliche Erklärungen dessen, was man für richtig halten sollte, wobei dies etwas durchaus anderes sein konnte, als das, was vom Regime offiziell vorgegeben war“(S.18). Wilhelm Anz ragte da besonders heraus:“…was er zu sagen wusste, berührte mich wie ein Hauch aus anderer, mir noch entzogener Welt. Dem gegenüber war die gesamte andere Schulzeit, ebenso wie deren politische und kulturelle Umgebung, irgendwie unwirklich“(S.29). In solchen Bemerkungen wird noch heute, mehr als sechs Jahrzehnte später, die Zwiespältigkeit der Erfahrungen spürbar, die ein Heranwachsender im Dritten Reich machen musste. Man wünschte sich, dass sich andere Schüler ermutigt fühlten, ihrerseits Bericht zu erstatten über ihre Erfahrungen und Eindrücke in den Jahren des Nationalsozialismus. Ulrich von Bülow und Matthias Bormuth (1981 Abiturient am Philippinum) sei gedankt, dass sie Dieter Henrich zu einem Gespräch gebeten haben, das so eindringlich auf wichtige Aspekte in der Geschichte des Philippinum im vergangenen Jahrhundert aufmerksam macht und an einen bedeutenden Lehrer erinnert, der nicht in Vergessenheit geraten darf.

 Am Ende des Gesprächs sagt Henrich noch einmal, was ihn an seinem Lehrer Wilhelm Anz (und auch an Hans-Georg Gadamer) so sehr berührt hat: “Nur in einem langen Nachdenken über die Gründe menschlichen Lebens, das sich nicht durch Trends, Moden und den Willen zu sportiven intellektuellen Leistungen oder Effekten beirren lässt, kann man zu einer Sprache und zu einer spontanen Mitteilungsart finden, in der das Leben für sich, in seiner Vernunftbestimmtheit und zugleich vor seinem ihm nicht verfügbaren Grund hell wird und in der sich das vollzieht und verwirklicht, was Philosophie eigentlich ausmacht“ (S.63). Die Erinnerung an seine Lehrer führt Henrich zu Grundfragen der Phílosophie; sie sind auch Grundfragen der Erziehung, wenn sie denn zu vernunftbestimmtem Denken anleiten will.

 Anmerkungen

 Vorbemerkung: Die eingeklammerten Seitenangaben beziehen sich stets auf den folgenden Text: „Was ist verlässlich im Leben?“ Gespräch mit Dieter Henrich, in: Matthias Bormuth, Ulrich von Bülow, Hrsgg., Marburger Hermeneutik zwischen Tradition und Krise, Göttingen 2008 (marbacher schriften. neue folge, band 3), S. 13-64.

 (1) Vgl. Wolfgang Drechsler, Hans-Georg Gadamers „Plato und die Dichter“, in: Erdmute Johanna Pickerodt-Uthleb, Hrsg., Zukunft braucht Erfahrung. Eine Festschrift, Marburg 2002, S. 53 ff.

(2) Arthur Henkel, Ein Abiturient und ein Philosoph. Erinnerungen an Hans-Georg Gadamer, in: Festschrift (wie Anm.1), S. 63 ff.; Hans-Georg Gadamer, Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt/Main 1977, S.55.

(3) Zum Begriff der Konstellation Matthias Bormuth, Ulrich von Bülow, Einleitung, in: Marburger Hermeneutik (wie Vorbem.), S. 9f.,und das Gespräch mit Henrich, ebd.,S. 13 ff., bes. S. 28f; vgl. Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen-Jena 1790-1794, Frankfurt/Main 2004.

(4) Zu Leo Strauss als Schüler des Philippinum lese man dessen Abituraufsatz aus dem Jahre 1917 (in: Festschrift, wie Anm.1, S.118 ff.) und dazu den Kommentar von Clemens Kauffmann, „Vieles Gewaltige gibt es, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch“. Werkgeschichtliche Anmerkungen zu einer Abiturarbeit von Leo Strauss, in: ebd., S. 103 ff. Zu den Marburger Jahren von Strauss vgl. jetzt Eugene R. Sheppard, Leo Strauss and the Politics of Exile. The Making of a Political Philosopher, Waltham, Mass. 2006, S.9 ff., S. 17 ff.

(5) Matthias Bormuth hat in seinen Beiträgen zur Festschrift (wie Anm.1, S. 69 ff., S. 83 ff., S. 99 ff.) bereits mit Nachdruck auf die Bedeutung Steinmeyers, Gerhard Krügers und Karl Löwiths hingewiesen.

(6) Der Band enthält Aufsätze über die wissenschaftlichen (und auch persönlichen) Beziehungen zwischen Erich Auerbach, Rudolf Bultmann, Hans-Georg Gadamer, Martin Heidegger, Max Kommerell, Gerhard Krüger, Karl Löwith, und auch Leo Strauss (vgl. o. Anm.4). Weiterführende Untersuchungen zur Marburger Konstellation bietet in einer bestimmten Perspektive Samuel Fleischacker, Hrsg., Heidegger’s Jewish Followers. Essays on Hannah Arendt, Leo Strauss, Hans Jonas, and Emmanuel Levinas, Pittsburgh, Pa. 2008. Unerschöpflich in seinen Informationen zur Konstellation ist Martin Vialon, Hrsg., Erich Auerbachs Briefe an Martin Hellweg (1939-1950), Tübingen-Basel 1997. Martin Hellweg (1908 – 2006) war von 1947 bis 1953 Lehrer am Philippinum (vgl. ebd.S.17 ff.).

(7) Vgl. z. B. aus jüngster Zeit Dieter Henrich, Denken und Selbstsein: Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt/Main 2007 .

(8) Bultmann war dem Philippinum eng verbunden, während des Dritten Reiches auch als Lehrer in den Fächern Latein, Griechisch und Ev. Religion. Vgl. dazu Matthias Bormuth, Kurt Steinmeyers Briefe an Gerhard Krüger, in: Festschrift (wie Anm. 1), S. 83 ff., bes. S. 94 Anm. 27; im übrigen neuerdings Konrad Hammann, Rudolf Bultmann, Tübingen 2009, passim.

(9) Vgl. Arthur Henkel, In memoriam Günther Zuntz, in: CHRONIKA, 6. Folge, Nr.2, April 1995, S.79 ff.; Gadamer, Philosophische Lehrjahre (wie Anm.2), S. 47. Dieter Henrich hat Zuntz nicht mehr erleben können, da dieser wegen seiner jüdischen Herkunft 1934 aus dem Schuldienst entfernt worden war.

(10) Vgl. die Würdigung durch Gadamer (a.a.O.), S. 58, und durch Henrich, Gespräch (wie Vorbem.), S. 19 .

(11) Vgl. dazu den Beitrag von Dieter Henrich für die Festschrift (wie Anm.1, S. 39-51, bes. S. 39 f.): Krise und Zukunft der Bildung in Deutschland. Zu Leben und Werk Wilhelm Anz’ v.a., Otto Merk, Dr. phil. Wilhelm Anz + . Studienrat und Professor der Philosophie, in: CHRONIKA (wie Anm.9), S. 81 ff.

(12) Die Erinnerungen Henrichs stimmen in vielfacher Hinsicht überein mit den Feststellungen von Barbara Händler-Lachmann und Lothar Potthoff, Kontinuität und Veränderung – Das Gymnasium Philippinum in Marburg im Nationalsozialismus, in: Barbara Händler-Lachmann, Ulrike Krautheim, Wolfgang Matthäus, Lothar Potthoff, „Erziehung zu nationalsozialistischer Weltanschauung und Staatsgesinnung“ ? Höhere Schulen im Nationalsozialismus (Sekundarstufe I/II), Wiesbaden 1991 (Materialien zum Unterricht, Sekundarstufe I – Heft 108. Projekt „Hessen im Nationalsozialismus“), S. 60 ff., S. 179 ff. Händler-Lachmann und Potthoff beziehen sich u.a. auch auf Gespräche mit ehemaligen Schülern und Lehrern, unter ihnen Wilhelm Anz (Gespräche im Dezember 1985, vgl. ebd., S. 70, S.76, S. 81).