„Wer mutig für sein Vaterland gefallen…“
Gedenktafeln am Gymnasium Philippinum Marburg in der Diskussion
von Prof. Dr. Reinhard Neebe
Reinhard Neebe war Schüler des Philippinums (Abitur 1966) und hat dort 1979-2009 die Fächer Geschichte, Erdkunde und Sozialkunde/Politik unterrichtet. Seither befindet er sich in einem sehr aktiven Ruhestand.
2014 jährt sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal – und bereits jetzt sind Medien und Öffentlichkeit auf die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ und den mit ihr verbundenen Untergang des alten Europa ausgerichtet.
Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und dieses historische Schlüsselereignis berührt auch das Gymnasium Philippinum der Gegenwart: Etwas abseits im Winkel zwischen Sporthalle, naturwissenschaftlichem Trakt und Kultidrom finden sich drei Gedenktafeln für die Toten der beiden Weltkriege sowie des deutsch-französischen Kriegs von 1870/71, die nach dem Abriss des alten Schulgebäudes in der Untergasse im Jahre 1973 im Neubau in der Schwangasse (Jetzt: Leopold-Lucas-Straße) wieder neu aufgestellt wurden. In der Schulchronik zum letzten Male Erwähnung fanden die Gedenktafeln anlässlich der 450-Jahrfeier des Gymnasium Philippinum 1977, als die offizielle Festfolge mit einer Kranzniederlegung durch die Ehemaligen eröffnet wurde.
Heute sind diese Tafeln Gegenstand einer zunehmend kritischen Diskussion innerhalb der Schülerschaft geworden. In einer Eingabe an die Schulleitung sowie einem „offenen Brief“ an alle Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer werden die Tafeln als anachronistische und kriegsverherrlichende „Kriegsdenkmäler“ bezeichnet, von deren Botschaften sich das Gymnasium Philippinum „entschieden zu distanzieren“ habe. Ein Verbleib der Tafeln sei nur zu akzeptieren, wenn eine „kritische Kommentierung“ erfolge und auch anderer Opfer des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gedacht werde.
Die Initiative der Schülerschaft berührt Kernfragen der Erinnerungs- und Gedenkkultur an die Weltkriegsepoche 1914-1945 und auch den Krieg von 1870/71. Die aufgeworfenen Fragen stehen gewiss für einen generationellen Wandel in der Wahrnehmung der Vergangenheit und ihrer Bedeutung für die Gegenwart – aber sie zielen darüber hinaus auch auf mögliche Spezifika in Schulgeschichte und Gedenkkultur eines renommierten humanistischen Gymnasiums in den letzten 140 Jahren.
Abbildung: Gedenktafel 1870/71 (Foto R. Neebe, 2012)
An den deutsch-französischen Krieg 1870/71 erinnert eine Tafel aus dunklem Marmor mit den Namen von insgesamt fünf Gefallenen, dem Ort ihrer Verwundung sowie ihrem Todesdatum. Die Abbildung des „Eisernen Kreuzes“ im Kopf der Tafel nimmt Bezug auf den von Friedrich Wilhelm III. in den Befreiungskriegen von 1813 erstmals gestifteten Orden – eine Ehrung jetzt auch für einfache Soldaten und nicht wie zuvor nur für Offiziere und Heerführer. Auch die Dedikationszeile mit den darunter stehenden Namen geht auf den Preußenkönig und seine Verfügung zurück, dass in jeder Kirche des Landes eine Tafel anzubringen sei, auf der unter der Aufschrift „es starben für König und Vaterland“ allen Gefallenen der Gemeinde namentlich zu gedenken sei.
Die Gedenktafeln für die Toten von 1914-1918 zeigen die völlig neuartige Vernichtungsdimension des Ersten Weltkriegs: In diesem ersten industriell geführten „modernen“ Massenkrieg starben weltweit 17 Millionen Menschen – und von den über 13 Millionen deutschen Soldaten fanden annähernd 2 Millionen den Tod auf den Schlachtfeldern. Ungezählte Denkmäler in ganz Europa und in jedem Ort und in jeder Stadt in Deutschland spiegeln das in allen kriegsbeteiligten Nationen gleichermaßen praktizierte Totengedenken wie auch die kollektive Traumatisierung eines ganzen Kontinents durch die Schrecknisse dieses Krieges – freilich mit je unterschiedlichen Sinnstiftungen bei Siegern und Unterlegenen.
Am Gymnasium Philippinum waren insgesamt 115 Schüler, Ehemalige sowie der Lehrer Dr. Jakob Ahrens, „Protektor“ des Schüler-Turnvereins, als Kriegstote zu verzeichnen. Erhalten geblieben ist ein Foto vom April 1917, das Dr. Ahrens auf Fronturlaubim Kreise der Mitglieder des Turnvereins zeigt. Das Bild gibt den Opfern des Ersten Weltkriegs ein „Gesicht“ und illustriert die dramatische Todesrate der Frontgeneration auch am Philippinum: Von den auf dem Gruppenfoto abgebildeten 19 Personen haben sieben, d.h. über 1/3, das Kriegsende nicht erlebt.
Abbildung: Blitzlichtaufnahme in der Turnhalle des Philippinums mit Dr. Ahrens (Bildmitte) im Kreise der Mitglieder des Turnvereins, April 1917.Davon sind später gefallen (von links nach rechts): Bernhard v. Behring, Hans Tuczek, Georg Winzer, Dr. Ahrens, Hans Walter, Albert Walter, Otto Wenzel.
Die in Form eines Triptychons von Otto Ubbelohde gestaltete Gedenktafel für die Toten des Ersten Weltkriegs ist im zentralen Mittelteil überschrieben mit dem Theodor-Körner-Zitat „Wer mutig für sein Vaterland gefallen, der baut sich selbst ein ewig Monument“ und führt auf sieben darunter angeordneten Tafelfeldern die Namen aller Gefallenen der Schule in deutscher Schriftauf. Die Tafeln selbst sind aus Lindenholz gefertigt und mit einer Eichenholzumrahmung versehen. Heute nicht mehr erhalten, in dem verbliebenen Originalentwurf Ubbelohdes aber noch gut erkennbar, ist die ursprüngliche Gesamtkonzeption des Denkmals: Überwölbt von einem der Sakralarchitektur entlehnten neugotischen Spitzbogen hat das Ensemble einen altarähnlichen Aufbau, mit einem darüber – offensichtlich an Stelle des Kreuzes – aufgehängten Schild, das den alten Reichsadler zeigt und nach dem Muster mittelalterlicher Totenschilde aus Holz mit überspannter Leinwand gefertigt werden sollte, vom Künstler eigenhändig ausgemalt.
Abbildung:Brief Otto Ubbelohdes an Prof. Engelhardt, den Vorsitzenden der Gedenktafel-Kommission, 20.10.1920
Abbildung: Entwurfszeichnung für die Gedenktafeln 1914-1918 von Otto Ubbelohde, August 1920
Abbildung: Gedenktafeln 1914-1918 im Neubau des Gymnasium Philippinum, heutiger Zustand (Foto R. Neebe, 2012)
An dem Ubbelohde-Denkmal 1914-1918 und insbesondere der Körner-Aufschrift entzündet sich vor allem die Kritik der heutigen Schülerschaft: Sind die Gedenktafeln tatsächlich „anachronistische Relikte“, die das „Soldatentum verherrlichen“ und vor „Militarismus strotzen“? Werden die Gefallenen hier wirklich zu „Helden“ stilisiert – oder ist das Denkmal nicht doch auch Ausdruck der Trauer und ehrenden Erinnerung der Hinterbliebenen an ihre Toten angesichts einer nur schwer zu verarbeitenden kollektiven Katastrophenerfahrung, vielleicht auch eine Mahnung für die Lebenden?
Lohnend ist hier ein Blick auf den unmittelbaren zeithistorischen Kontext und die zeitgenössischen Akteure: Welche Art von Sinnstiftung verfolgten diese und von welchen Leitgedanken und Empfindungen waren sie geprägt? War es eher das Bemühen um ein würdiges Totengedenken für die gefallenen Mitglieder der Schulgemeinde und ging es vornehmlich darum, der Trauerarbeit von Angehörigen und Freunden angemessen Raum zu geben – oder spielte der Gedanke, die Überlebenden auf das Vorbild der Opfer zu verpflichten und erneute Opferbereitschaft für „Nation und Vaterland“ einzufordern, stärker hinein? Dank einer vorzüglichen archivalischen Überlieferung zur Entstehungsgeschichte der Gedenktafeln des Ersten Weltkriegs am Philippinum sind wir heute in der Lage, der Antwort auf diese Frage zumindest ein wenig näher zu kommen:
Prägende Figur jener Jahre war Dr. Cornelius Hölk (1869-1944), Direktor des Gymnasium Philippinum von 1917-1932. Hölk, der sich bereits am Johanneum in Lüneburg als Kriegsredner einen Namen gemacht hatte, regierte die Schule mit „patriarchalischer Strenge“ und blieb zeitlebens dem kaiserlichen Deutschland verhaftet. Der demokratischen Republik und ihren Repräsentanten konnte er wenig abgewinnen, und er bewegte sich damit vollkommen im Mainstream des bürgerlich-konservativen Zeitgeistes und in den fortdauernden wilhelminischen Traditionen in Universität und Stadt Marburg. In unzähligen Reden an eine ganze Schülergeneration verkündete Hölk seine Helden- und Opferbotschaft, so auch vor Eltern und Schulgemeinde bei der offiziellen Gedenkfeier für die Gefallenen am Philippinum im Juli 1919: „Stahlharte Leiber und beherrschte Geister müssen das Kennzeichen des deutschen Mannes und Jünglings sein. Der Augenblick, der uns das nächste Mal in die Entscheidung ruft, kann über Nacht kommen; keine Nacht darf uns unvorbereitet finden… Wir müssen bereit sein, denn wer im nächsten Kampf besiegt wird, der wird aus der Reihe der Völker gestrichen.“Kollektive oder individuelle Trauer für die Kriegstoten stand für Hölk nicht im Blickpunkt – Schmerz über die verlorenen Söhne blieb ihm eine Angelegenheit vor allem der Frauen und Mütter. Bei der feierlichen Enthüllung der Ubbelohde-Gedenktafeln im Dezember 1920 baute Hölk den Opfergedanken, gepaart mit dem „Willen zur Macht“ auf dieser „männergebietenden Erde„, noch weiter aus:
„Ein Volk, das imstande ist, ein Zehntel seiner rüstigen Jugend und Manneskraft zum Opfer fürs Ganze zu bringen, ein Volk, das eine Jugend besitzt, die mit Ehrfurcht und frommer Scheu dies Opfer zu würdigen weiß und die bereit ist, trotz der Totenmale, die in jedes Haus hineindrohen, denselben Weg zu gehen, wenn die Not und die Ehre rufen, ein Volk, das Eltern besitzt, die auch für das nächste Mal wieder ihre Jugend blutenden Herzens aber festen Willens herzugeben gewillt sind, ein Volk, das Mahner zum echten Mannestum besitzt wie das unsere an diesen unseren Toten, ein solches Volk kann noch nicht zum Untergehen reif sein. Es kann auch nicht bestimmt sein, im Taumel des Pazifismus und Materialismus und im ästhetischen Genuss seiner geistigen Vorzüge, die ihm doch bleiben müssten, auch wenn Freiheit und Menschenwürde in Ketten liegen, sich zufrieden zu geben.
Es muss wieder wach werden zu tüchtiger Mannestat, zum Willen zur Macht, zum Ringen nach selbständiger Geltung auf dieser männergebietenden Erde, wach und entschlossen bis zur freiwilligen Opferung von Leib und Leben fürs Vaterland. Dazu gebe der gerechte und gnädige Gott seinen Segen!“
Mit der Stabilisierung der Weimarer Republik in den „goldenen“ 20er Jahren verlor die Kriegsrhetorik Hölks wohl an Schärfe, gleichwohl blieb die „heldische“ Botschaft die gleiche: Im Februar 1926, anläßlich der Einstimmung seiner Schüler auf den erstmalig zu begehenden Volkstrauertag, klang es inzwischen so: „Heldisch zu denken und zu empfinden …, das von den Gefallenen zu lernen, ist unsere Pflicht wenn wir ihrer gedenken. Wir wollen wie sie glauben an die Zukunft und Größe unseres Volkes, wir wollen immer den Geist nähren, bereit zu sein, wenn die Ehre des Vaterlandes es fordert, Leib und Leben hinzugeben.“ Auf eine Anweisung Hölks bei der Ausfertigung des Denkmals im Herbst 1920 geht offenbar auch der Zusatz „Für Kaiser und Reich starben“ auf der linksseitigen Namenstafel zurück – jedenfalls gibt es auf diese Widmungszeile in allen Ausschuss-Sitzungen der Denkmal-Kommission wie auch in dem von Ubbelohde autorisierten Entwurf noch keinerlei Hinweis. Es ist vielleicht eine bittere Ironie der Geschichte, dass der Name von Hölks Sohn Erwin, Schüler am Gymnasium Philippinum von 1917-23, sich dann – „so wie das Gesetz es befahl“ – auf der bronzenen Gedenktafel für die Opfer des Krieges 1939-1945 wiederfindet.
Welche Spuren die Reden Hölks in der ihm anvertrauten Schülergeneration hinterließen, ist schwer zu beurteilen. Immerhin haben wir vom Schüler-Turnverein am Gymnasium Philippinum ein zeittypisches Zeugnis, und zwar aus der Feder von Otto A. Friedrich (1902-1975), dem späteren Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände: Im Stamm- und Fahrtenbuch des Turnvereins notierte der Oberprimaner Friedrich im November 1918: „Unsere gefallenen Kameraden … haben es gut gehabt, denn sie sind mit Ehr im Leibe für ihr großes Vaterland in den Tod gegangen. Doch wir jungen Leute, die wir vergeblich gehofft hatten, auch noch raus vor den Feind zu kommen, wollen nicht die Hände in den Schoß legen und verzagen. Auf uns liegt die Zukunft unseres Vaterlandes. Ehren wir das Gedächtnis der Gefallenen, indem wir trotz allen Unglücks trotzig und mannhaft demselben Ziel zustreben wie sie, für die Ehre Deutschlands zu leben.“
Für die aktiven Kriegsteilnehmer, die die mörderischen Vernichtungsschlachten an der Front überlebt hatten, sah das freilich anders aus: Beispielhaft hierfür mag Hermann Bauer (1897-1966) stehen, im Ersten Weltkrieg Schriftleiter der „Kriegsnachrichten ehemaliger Marburger Gymnasiasten“ und später Herausgeber der 1927 gegründeten „CHRONIKA“. Bauer hatte in den „Kriegsnachrichten“ im Herbst 1917 noch vehement für einen „Siegfrieden“ gestritten, war im September 1918 aber völlig erschüttert vom „Wahnsinn“ des Krieges, der die Menschheit ergriffen hatte, und dem „Völkermorden, das nimmer enden will“. Nun sei sein einziger Wunsch: „Friede !“ – „Nulla salus bello, pacem te poscimus omnes !“– Niemals bringt Gutes der Krieg, dich, Frieden, ersehnen wir alle – so Bauer jetzt mit dem Vergil-Zitat aus der Aeneis.
Während die zu Hause gebliebenen Alten ebenso wie die noch nicht wehrpflichtige Schuljugend unverdrossen an der überkommenen Kriegsrethorik und Heldensaga festhielten, waren die Frontsoldaten zutiefst ernüchtert von der bitteren Erfahrung des Mordens und Massensterbens auf den Schlachtfeldern fern der Heimat. Dies wußte schon der griechische Dichter Pindar (522-448 v.Chr.), wenn er schrieb: „Süß erscheint der Krieg dem, der ihn nicht kennt; wer ihn aber erlebt hat, dem erschrickt das Herz„. Und hellsichtig hatte Sebastian Haffner bereits Anfang der 1930er Jahre beobachtet, dass es nicht die Frontgeneration des Ersten Weltkriegs war, die sich für die nationalsozialistischen Welteroberungspläne begeistern ließ, sondern die in der Dekade von 1900 bis 1910 Geborenen, die als Schulkinder den Krieg nur als großes, aufregendes und begeisterndes Spiel der Nationen erlebt hatten.
Nach den Zweiten Weltkrieg brauchte es immerhin 18 Jahre, bis eine Ehrentafel mit der Aufschrift „1939-1945“ für 205 namentlich verzeichnete Opfer aufgestellt werden konnte. Für die Errichtung der stelenartigen, mit Eichenlaubornamenten verzierten Bronzetafel hatte sich in besonderer Weise der langjährige Schriftführer der CHRONIKA (1927-1969), Wilhelm Strippel (1886-1970), eingesetzt. Strippel hatte nicht nur Spenden für eine Gedenktafel gesammelt, sondern in langjähriger Arbeit auch die Namen der Toten des Zweiten Weltkriegs zusammengetragen. Der ursprüngliche Plan, ihre Lebensläufe und Bilder in einem Gedenkbuch für die Nachwelt zu erhalten, wurde 1963 zugunsten einer Ehrentafel aus Bronze fallen gelassen. Ein solches Buch für die Gefallenen entstand dann freilich doch aus den von Strippel gesammelten Materialien, das er an seinem 80. Geburtstag als sein Geschenk der alten Schule und den ehemaligen Schülern übereignete.
Abbildung: Gedenktafel 1939-1945 (Foto R. Neebe, 2012)
Die künstlerische Gestaltung der bronzenen Gedenktafel 1939-1945 oblag dem Bildhauer Paul Wedephol aus Biedenkopf, in enger Abstimmung mit Prof. Hamann-Mac Lean von den Ehemaligen sowie Horst Peter, Kunstlehrer des Schule. An der Feier zur Enthüllung der Ehrentafel im März 1963 nahmen der Oberbürgermeister der Stadt Marburg, Vertreter der Kirchen und anderer Institutionen, zahlreiche Angehörige sowie die Oberstufenklassen der Schule teil. In seiner auch heute noch lesenswerten Gedenkrede warnte Prof. Dr. Niebergall vor der Gefahr und Versuchung zu „falschen Tönen“ angesichts der Opfer einer „grauenhaften Tyrannis“. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges jedenfalls sei die Zeit der „stolzen Trauer“ in der Tradition der Perikles-Rede für die Gefallenen des Peloponnesischen Krieges vorbei, wie diese von den Befreiungskriegen 1813 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs ungebrochen gegolten habe. Eher eigne sich eine andere, bei Andreas Gryphius‘ „Tränen des Vaterlands“ anknüpfende, von der Katastrophe des 30jährigen Krieges geprägte Traditionslinie, nämlich die der „ratlosen Erschütterung“. Ganz in diesem Sinne verzichtete auch Prof. Dr. Luther, der Direktor des Gymnasium Philippinum, bei der Einweihung der Gedenktafel für die Opfer des Zweiten Weltkriegs auf jeden Versuch einer überhöhten Sinngebung: „Der historische Sinn ihres grausigen, unerbittlichen Sterbens ist für uns heute nicht ergründbar“.
Die Gedenktafeln am Gymnasium Philippinum spiegeln in paradigmatischer Weise die großen historischen Zäsuren seit der Entstehung des deutschen Nationalstaates in den letzten 140 Jahren. Zusammen mit einem in Teilen exzellenten Dokumentenbestand zur Geschichte der Schule bieten sie eine hervorragende Grundlage, die Entwicklungslinien eines humanistischen Gymnasiums vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart im Kontext des historischen Gesamtgeschehens, z.B. im Projektunterricht, neu aufzuarbeiten und dabei insbesondere auch mögliche Defizite und Wandlungen in der Erinnerungskultur der Schule mit in den Blick zu nehmen.
Die Fußnoten und Abbildungen sind in der Online-Darstellung nicht enthalten, siehe Chronika 2013, Seiten 628 ff.