In den Anfangsjahren der Bonner Republik auf dem Philippinum
von Reinhard Forst, Abitur 1960
Langsam kommen die meisten Menschen in die Jahre, wo sie selbst zu Zeitzeugen werden. So ergeht es auch mir. Ich erinnere mich noch an einen Chronika-Beitrag (1980, S. 264ff) von Karl Wenckebach, Vater meines gleichnamigen Klassenkameraden, der als früherer Fahrschüler aus Wittelsberg über seine Schulzeit vor dem Zweiten Weltkrieg berichtete. Jetzt will ich meine Zusage einlösen, Eindrücke aus den Jahren 1951-60 wiederzugeben.
Jede Erinnerung, jede Sichtweise ist natürlich persönlich geprägt. Es ist also nicht die Wahrheit, aber doch eine Wahrheit, vorausgesetzt, die eigene Erinnerung täuscht einen nicht. Ich hoffe, dass mir keine schwerwiegenden Fehler unterlaufen.
April 1946 kam ich in einem aus vierzig Viehwaggons bestehenden Transport zusammen mit meiner Mutter aus Prachatitz im Böhmerwald in Niederwalgern an. Ronhausen und ab 1952 Bortshausen wurden unser neues Zuhause. In Ronhausen besuchte ich ….
die einklassige Grundschule. Nach Ablegung der Matura, wie das Abitur in Österreich hieß und heißt, stießen meine beiden älteren Brüder von dort zu uns. 1951 wurde mein Vater aus tschechischer Gefangenschaft entlassen. Meine Mutter hatte mir die Entscheidung überlassen, was ich werden wollte. Schon im ersten Grundschuljahr hatte ich mir eine Deutsch-Hausaufgabe aufgehoben, die ich als Lehrer verwenden wollte. Sie muss mich sehr beeindruckt haben. Gelegentliche Überlegungen, Zuckerbäcker (Konditor) oder Förster zu werden, haben die frühe Grundentscheidung nicht beeinflussen können. So entschied ich mich für den Versuch, am Gymnasium Philippinum aufgenommen zu werden. Ich nahm an der einwöchigen Aufnahmeprüfung teil. Nach einiger Zeit fand ich mich, wenn ich mich nicht täusche, mit 44 Mitschülern in der Sexta des Philippinums wieder.
In manchen Bereichen, z.B. dem Multiplizieren von zweistelligen Zahlen, hatte ich Nachholbedarf. Aber die einklassige Grundschule hatte auch ihre Vorteile. Ich erinnere mich, dass ich einmal –nach Erledigung meiner Aufgaben- bei den älteren Schülern in Geschichte zuhören konnte und so von Napoleons Scheitern vor Moskau erfuhr.
Unser erster Klassenlehrer war Herr Kirchner, Kiki, wie wir ihn nannten. Ich habe gute Erinnerungen an ihn. An der ersten Klassenfahrt nach Bad Homburg nahm ich nicht teil, weil ich Bettnässer war. Als Herr Kirchner einmal erzählte, dass der „Seeteufel“ Graf Luckner (auch) Bettnässer gewesen war, war das ein Stück Trost für mich. Er sagte auch, jeden Menschen müsse man respektieren, ungeachtet seines Alters. Wir würden ja auch einmal Förster, Ärzte, Handwerker, Unternehmer, Lehrer und Professoren sein.
Edmund Weber und Dietrich von Kries waren damals die größten und stärksten in unserer Klasse. Ich erinnere mich noch, dass es mir imponierte, als Fritz Dickmann in einem Deutschaufsatz über eine Klassenwanderung in der Badestube (hinter dem Richtsberg) die Größe der Fichten mit Dietrich von Kries verglich. Als wir aus Anlass des vierzigjährigen Abiturs alle ehemaligen Klassenkameraden suchten, spuckte das Telefonverzeichnis Deutschlands einen Psychotherapeuten Dietrich von Kries in Frankfurt aus. Ich rief ihn an. Zuerst hielt er den Anruf für einen Scherz. Er hatte ja schon früh wegen eines Umzugs das Philippinum verlassen. Dann kam er am Samstag zu unserem Treffen, fuhr am Abend nach Frankfurt zurück und erschien am Sonntag zusammen mit seiner Frau zum Ausklang im Brücker Wirtshaus in Amöneburg. Aus einer Anzeige in der Frankfurter Rundschau erfuhr Dietrich Fischer von seinem Tod und verständigte mich. So konnten wir uns von ihm zum letzten Mal verabschieden.
Ich war eigentlich (nach meiner Erinnerung) ein ziemlich braver Schüler. Trotzdem erhielt ich den ersten Klassenbucheintrag unserer Klasse. Und das kam so: Der Biologieraum befand sich unter dem Dach mit Blick zum Schulhof mit den schönen Platanen. Die Tische waren zwar auch Schreibunterlage, aber noch mehr ein Landschaftsmodell mit Bergen, Tälern und wenigen Ebenen, wobei die Jahresringe die Rolle von Höhenlinien übernahmen. Gleichzeitig waren sie eine Chronik, die –wie es mir schien– von unzähligen Schülergenerationen berichtete. In diese Geschichtslandschaft steckte ich, ohne mir viel dabei zu denken, die für die Untersuchung von Pflanzen vorgesehene Seziernadel. Und dann geschah es. Herr Heckmann entdeckte die im Tisch steckende Nadel, ließ die Kuppen der gespreizten Finger beider Hände zweimal miteinander Kontakt aufnehmen und vermerkte ohne übermäßige Erregung: „So, so, Forst, du beschädigst Staatseigentum. Ich werde dich einmal eintragen.“ Ich war wie vom Schlag getroffen. Der Tonfall von Herrn Heckmann entzieht sich meinen Beschreibungsfähigkeiten. So lange es aber noch Ohrenzeugen gibt, wird man bei jedem Ehemaligentreffen Anekdoten in mehr oder weniger gelungener Annäherung an das Original zu hören bekommen. Ich wartete auf die unheilvollen Folgen. Es geschah nichts. Niemand sprach mich auf mein Vergehen an. Und als auch im Zeugnis kein Vermerk meiner Missetat enthalten war, hatte ich eine erste Lektion gelernt: Schicksalsschlägen im Leben mit mehr Gelassenheit zu begegnen.
Die (subjektiv empfundene) Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit hinterlässt in der Erinnerung offenbar die tiefsten Spuren. Ich habe versucht, dies in der Zeit meines eigenen Lehrerseins nicht zu vergessen.
Ich glaube, es war noch in der Sexta, als uns Herr Kirchner die Aufgabe stellte, für einen Wettbewerb ein möglichst gutes
Quinta von 1953 |
Erste Reihe unten von links nach rechts: Ernst Eysel, Kurt Hartmann, Hermann Zinn, Friedhelm Siebert, Katharina Kümmel, Lutz Reif, Klaus Meinhardt, Gerhard Fahnenschmidt |
2./3.Reihe (h= höher; t= tiefer): Peter Dimroth, Frankbert Müller (h) , Fritz Dickmann, Thomas Hellweg (h), Wolf-Rüdiger von Hase, Albrecht Straube, Wolfgang Roedig, Edzard Dülfer (dahinter), Christian Rautenberg, Jochen Lenzner, Helmut Stahl |
4.Reihe: Klaus Winchenbach, Uli Schoen (t), Wolfhart Eilers, Erich Böhme (h), Gunter Kuballa, Walter Ritter (h), Hajo Lieberknecht |
5. Reihe: Klaus Kappert, Wilfried Düring (h), Reinhard Wüpper (t, mit Brille), Andreas von Rauch, Reinhard Forst (h), Ulrich Trepte, Bernd Scheibe, Gottfried Fokken, Götz Keim (h), Dietrich Fischer |
Oberste Reihe: Edmund Weber, Dietrich von Kries, Jochen Böhme, Dieter Luitjens, Hans Koch, Michael Boos (t), Eckart Kyrieleis, Hermann Büsing |
Rätsel zu entwerfen. Ich hatte mir ein Worträtsel ausgedacht, etwa in der Form „Wenn man einem Haus, Dach und Keller nimmt, findet man etwas zu essen“. Dabei wären mit Dach und Keller der erste und der letzte Buchstabe des Wortes gemeint, so dass man z.B. beim Wort „Heim“ auf ein „Ei“ stoßen würde. Es traf mich zutiefst, auch wenn es anonym geschah, als Herr Kirchner erklärte, es könnten keine Rätsel am Wettbewerb teilnehmen, die man abgeschrieben habe und dann mein Rätsel vorlas. Es half auch nichts, als ich ihm sagte, ich hätte wirklich nicht abgeschrieben.
Ein anderer Vorfall einige Jahre später: In einer Mathematikstunde von Herrn Plaas wurde es wieder einmal laut. Herr Plaas beschwerte sich (zu Recht) über unser Verhalten und sagte, jetzt störe man und dann erkläre wieder einer „Ich habe es noch nicht ganz verstanden“. Ich wusste sofort, dass es meine Formulierung war, wenn ich –was nicht selten vorkam- nachfragte. Noch am selben Tag kam Herr Plaas in der Großen Pause auf dem Schulhof zu mir und sagte, ich solle weiter fragen, wenn ich etwas nicht verstünde. Er habe seine Äußerung vorhin in der Klasse nicht so gemeint, wie ich sie empfunden haben könnte. An dieses noble Verhalten denke ich noch jetzt mit Hochachtung.
Auch wenn Herr Plaas Schwierigkeiten hatte, uns etwas zu erklären, empfand ich die von ihm benutzte Zeichensprache für Konstruktionen von Dreiecken und Ähnlichem als einleuchtend und hilfreich. Ich habe sie später, als ich als Referendar und Studienassessor eine Unterrichtsbefähigung für Mathematik in der Unterstufe erworben hatte, wieder benutzt.
Dass wir als Schüler nur einen beschränkten Aspekt unserer Lehrer kannten, wurde uns klar, als der uns etwas linkisch erscheinende Herr Plaas bei einem Schulsportfest einen Kopfsprung vom Fünf-(oder Zehn?)Meter-Turm machte.
Ich kann mich nicht erinnern, dass es Spannungen zwischen Flüchtlingskindern und Klassenkameraden aus dem Marburger Bildungsbürgertum gegeben hätte. Meine engen Freunde Andreas von Rauch und Dietrich Fischer stammten aus Professorenfamilien.
Fahrschüler zu sein, bedeutete, mit dem Zug zu kommen, ob nun von Münchhausen, wie einige aus unserer Klasse, von Niederweimar oder mit der Marburger Kreisbahn. Für die später Geborenen sei gesagt, dass dies die Linie Südbahnhof – Cappel – Ronhausen – Bortshausen – Ebsdorf – Wittelsberg – Dreihausen war. Der jetzige Fahrradweg von Marburg über Cappel, Ronhausen und Bortshausen nach Ebsdorf verläuft auf dieser Trasse. 6.20 Uhr fuhr die Kreisbahn am Morgen in Bortshausen ab. Die Rückfahrt begann am Südbahnhof nach meiner Erinnerung um 14.20 Uhr. Frankbert Müller aus Dreihausen, später katholischer Geistlicher und am 16.6.2006 in Poppenhausen/Rhön gestorben, musste jeden Tag eine zusätzliche Stunde für den Schulweg aufwenden. Da wir etwa eine Stunde vor Schulbeginn im Philippinum waren, begleiteten wir häufig Herrn Miersch, den Hausmeister, bei seinen Gängen durch die Katakomben des ehrwürdigen Sandsteingebäudes oder halfen an besonderen Tagen beim Hissen der Flagge. Nach Unterrichtsende waren wir oft mit dem Einsammeln von Milchflaschen beteiligt.
Der Weg vom oder zum Südbahnhof konnte genutzt werden, Zigarettenschachteln zu sammeln, die sich zum Herstellen eines Kartenspiels eigneten, wie Overstolz, Zuban oder Juno („Aus gutem Grund ist Juno rund“). Es war die einzige Affinität, die ich je zu Zigaretten entwickelt habe. Manchmal blieben wir länger in der Schule. Ein Schultisch wurde Tischtennisplatte. Aus Büchern wurde ein Netz gebaut. Mein Schläger war ein Küchenbrettchen mit Griff. Irgendwie mussten wir Informationen von der chinesischen Art zu spielen bekommen haben. Ich probierte jedenfalls den Penholder-Griff aus und spiele noch jetzt so, seit ich mit 35 Jahren angefangen habe, in einem Verein Tischtennis zu spielen.
Durch Gerhard Fahnenschmidt -ich habe noch jetzt den Rhythmus der vier „F“ unserer Klasse im Ohr „Fahnenschmidt, Fischer, Fokken, Forst“- wurde Schach populär. Noch als Unterstufenschüler löste er Mathematiklehrer Althaus als Marburger Schachmeister ab. Später wurde er einer der besten deutschen Schachspieler. Erich Böhme, Sohn von „Zwockel“, unserem Erdkunde-Lehrer und (später?) stellvertretendem Schulleiter, wurde Vorsitzender des Hessischen Schachverbands. Dass ich einmal (schon in der Oberstufe) Zweiter beim Schulschachturnier war, hatte ich mehr meinem Sitzfleisch als analytischen Fähigkeiten zu verdanken. Eine Schachuhr benutzten (oder besaßen) wir nicht.
Manchmal wurden auch Briefmarken getauscht. Für mich war in der Kindheit die Philatelie der erste Zugang zur Welt. Sie hat mich bis jetzt begleitet.
Im Laufe der Schulzeit zeigten viele Mitschüler besondere Fähigkeiten und Interessen: Horst Pusch und Andreas von Rauch als Violinsolisten, musikalisch besonders interessiert und befähigt waren auch Katharina Kümmel, Helmut Stahl und Rolf Pfeiffer, der in der Oberstufe von der Amöneburger Lateinschule zu uns stieß, Andreas von Rauch und Dietrich Fischer in der Ornithologie, Kant wurde gelesen und durch Herrn Dr. Keller war Bultmann Gesprächsgegenstand, Ernst Eysel schliff mit Hilfe von Andreas von Rauch ein Teleskop, Hermann Büsing ließ Interessen erkennen, die ihn später auf den Weg zum Archäologie-Professor leiteten. Erich Böhme und Edmund Weber waren früh politisch tätig. Und vieles weiß ich vermutlich nicht.
Man kennt das Phänomen, dass sich das Verhältnis unter Geschwistern manchmal mit den Jahren ändert. Dort hängt es meistens mit dem unterschiedlichen Alter zusammen, das mit der Zeit eine immer geringere Rolle spielt. Obwohl das für Klassenkameraden nicht gilt, können sich auch hier Bezüge verändern. Mein freundschaftliches Verhältnis zu Helmut Stahl (und seiner Frau) entstand erst durch Ehemaligentreffen.
Als ihr Vater als Neutestamentler einen Ruf an die Philipps-Universität erhalten hatte, kam Katharina Kümmel zu uns. Sie war eines der ersten Mädchen an der Schule. Dietgart Lieberknecht, die später auf das Philippinum wechselte, war die erste Abiturientin. Aufgrund der Seltenheit ihrer Spezies am damaligen Philippinum sind mir noch Gesichter und Namen von Mädchen aus anderen Klassen in Erinnerung geblieben, wie Dietlind Exner, Dörte von Drigalski, Gunhild Luther und Jutta Schuchard.
Als ich in der Quarta, heute Klasse 7, war, erlaubten mir meine Eltern, mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren. Die Straße war noch nicht geteert. Am Südbahnhof musste ich manchmal bei heruntergelassenen Schranken warten. Dann kam der „Gasthof zum Schützenpfuhl“, das Wirtshaus an der Lahn, dessen Stelle jetzt der sog. Affenfelsen einnimmt. Ich denke immer noch mit Wehmut an den Verlust zurück. Frankfurter Straße, Gutenbergstraße mit dem Kino „Gloria“ folgten. Nach dem letzten kurzen Anstieg ging es in die Untergasse. Auch ich habe damals die Aufschrift mit dem genitivus obiectivus am zweiten Eingang des Philippinums nicht verstanden (DIE FURCHT DES HERREN IST DER WEISHEIT ANFANG). Wo sich jetzt das Physicum befindet, waren die Fahrradständer. Wenn man von dort ein Stück weiter ging, kam man zur Sandsteintreppe, die längs der Stadtmauer auf den Schulhof führte. Der Abriss des neugotischen Schulgebäudes, die Überbauung des platanenbestandenen Hofs und die Zerstörungen im Bereich der Stadtmauer gehören zu den negativen Beispielen des Umgangs mit dem historischen Erbe Marburgs. Für mich war dies Anlass für meinen ersten Leserbrief.
v.l.n.r. Dr. Kirchner, Dr. Wiemer, Herr Wolf, Dr. Kellner
Das Lehrerzimmer war für uns nicht zugänglich. Es fand aber dort die mündliche Abiturprüfung statt. Vorher wurde in vier Fächern (Deutsch, Latein, Griechisch, Mathematik) ein Vorabitur und mit einigen Wochen Abstand das Abitur geschrieben. Am Morgen des Tags der mündlichen Prüfung wurde bekanntgegeben, in welchen beiden Fächern man wann geprüft werden würde. Das gesamte Kollegium war bei diesen Prüfungen anwesend.
Die Schulsekretärin Frau Figge war eine (erfreuliche) Institution wie in späteren Jahren Frau Hopf.
Die Erfahrungen mit und die Erinnerungen an den Fachunterricht sind natürlich stark von den Lehrern geprägt, die man selbst im Unterricht hatte. So mögen Erinnerungen unterschiedlich ausfallen. Bei mir überwiegen eindeutig die positiven. Manche Dinge kann man erst mit einem gewissen Abstand beurteilen.
Dass ich eine relativ gute geographische Vorstellung von der Welt habe, verdanke ich wohl den vielen Karten, die wir bei Herrn Böhme zeichnen mussten.
In „Singen“ hatte ich in der Grundschule meine einzige „Vier“. Dass ich besonders klassische Musik liebe, hängt wahrscheinlich mit dem Unterricht von Herrn Will zusammen. Ich weiß noch, wie sehr es mich berührte, als ich im Unterricht zum ersten Mal die „Moldau“ von Smetana hörte. Vielleicht hat der Umstand, dass ein Teil meiner Vorfahren in der Nähe der Moldau gelebt hat, eine zusätzliche Nähe zu diesem Werk bewirkt. Aber auch die Besprechung einer Mozart-Oper ist mir in Erinnerung. Wenn mich niemand hören konnte, versuchte ich den Osmin in der „Entführung aus dem Serail“ nachzuahmen.
Bei Herrn Peter haben wir trotz (vielleicht auch wegen) seiner legeren Art im Kunstunterricht viel gelernt. Neben den unterschiedlichen praktischen Arbeiten stellte er uns mit Dias die ganze Weite der Epochen und Maler vor.
Der Sportunterricht bestand im Winter aus Geräteturnen und Basketball im Sommer aus Leichtathletik und Schwimmen. In der ersten Jahren spielten wir auch Völkerball und auf dem Schulhof Schlagball. Die 4,10m im Weitsprung von Hermann Zinn in der Sexta haben mich beeindruckt. In späteren Schuljahren waren Horst Pusch und Jochen Böhme die Stars auf der Langstrecke. Hartmut Schmid sprang über sechs Meter. Beim Sportabitur liefen wir zu Höchstform auf. Sogar Karl Wenckebach und mir gelang es zum ersten Mal, mit geliehenen Spikes 5m zu überspringen.
Herrn Dr. Kellners Biologieunterricht war anspruchsvoll und kompetent. Ziemlich mäßig war unser Chemieunterricht. In Mathematik brauchte sich das Philippinum gegenüber naturwissenschaftlichen Gymnasien nicht zu verstecken. Gegenüber Mitschülern kannte ich keine Konkurrenzgefühle, aber ich konnte mit mir, dem Fachlehrer und der Welt hadern, wenn es mir nicht gelang, die Lösung einer Aufgabe zu finden. Einmal fiel mir am Morgen auf dem Weg zur Schule auf dem Fahrrad in Höhe der Steinmühle eine Lösung ein, um die ich mich den ganzen Nachmittag vergeblich bemüht hatte. Bei Herrn Althaus mussten wir in der Oberstufe oft an der Tafel eine Aufgabe vorrechnen. Ich besaß dabei Narrenfreiheit, nachdem es mir einmal gelungen war, zu Hause den Brennpunkt einer Hyperbel durch eine Konstruktion zu bestimmen, obwohl es hieß, dass nur Näherungswerte möglich seien. So führte die Anspannung, der ich mich manchmal aussetzte, auch zur Entspannung.
Herr Dr. Ihrig war unser Deutschlehrer in der Oberstufe. Sein Leben war Literatur und Theater. Die große Faust-Aufführung hat bei uns allen einen tiefen Eindruck hinterlassen. Mit Natur konnte Herr Ihrig wie Marcel Reich-Ranicki wenig anfangen. Mir bedeutete sie viel. Ich weiß nicht mehr, ob es er oder ein anderer Deutschlehrer war, der bei der Lektüre von Wilhelm Tell Katharina Kümmel fragte, ob sie von der Schweiz her wüsste, was ein Mel-knapf ist. Es vergnügte und beruhigte uns auch ein bisschen, dass selbst gestandene Fachleute einen Melknapf übersehen können.
Auch der Unterricht in den modernen Sprachen war gut. Als ich dreieinhalb Jahre nach dem Abitur zum ersten Mal in einem Land (Ägypten) auf Englisch angewiesen war, war ich selbst überrascht, dass es klappte. Vorher hatte ich noch nie die Möglichkeit besessen, Englisch außerhalb der Schule zu sprechen.
Viel zu verdanken haben wir Herrn Dr. Ehrhardt. Spätestens in der Kriegsgefangenschaft war ihm wohl der ganze Irrsinn des Dritten Reichs bewusst geworden. Uns den Wert von Mitmenschlichkeit und Verantwortung bewusst zu machen, war ihm ein zentrales Anliegen. Er verschonte uns auch nicht vor den schrecklichen Bildern der in den Konzentrationslagern Gequälten und Ermordeten. Lange Zeit dachte ich, dass die meisten Schüler unserer Generation entsprechend informiert worden sind. Dass Unterricht, wie wir ihn erhielten, durchaus nicht selbstverständlich war, wurde mir erst später bewusst. Ich werde Herrn Ehrhardt für seinen Einsatz immer dankbar bleiben. Quellenstudium war ihm wichtig. So lasen wir auch das Kommunistische Manifest. Unzählige Blätter bereitete er für uns vor. Als ich selber Lehrer war, wurde mir klar, wieviel Zeit und Arbeit er dafür aufgewendet haben muss. Bei ihm waren Faktenwissen und kritisches Denken keine Gegensätze. Sie gehörten zusammen. Ca. zehn Seiten geschichtlicher Daten hatten wir als geschichtliches Grundgerüst zu lernen. Als ich mir die Reihenfolge der englischen Königshäuser einzuprägen versuchte, merkte ich, dass es mit Hilfe der Anfangsbuchstaben nicht schwierig ist: NALYTS-H (Normannen, Anjou, Lancaster, York, Tudor, Stuart, Hannover). Ähnliche Eselsbrücken haben mir später noch oft geholfen.
Einmal nahmen zwei aus unserer Klasse (Dietfried Krause, Albrecht von Stosch) und außerdem Rolf Dehn und Christian Hauffe bei einer Wahlveranstaltung der Deutschen Partei als Zuhörer teil. Als zum Abschluss das Deutschlandlied gesungen wurde, verließen sie den Saal. Dies führte in Marburg zu einem Eklat. Die Wellen schlugen hoch. Es war mit dem Schulleiter Dr. Luther wohl besonders Herr Ehrhardt, der für eine kluge und zutreffende öffentliche Erklärung der Schule sorgte: Nationalhymne sei die dritte Strophe des Deutschlandlieds. Wer die anderen Strophen bei einer Wahlveranstaltung singe, demonstriere damit eine bestimmte politische Meinung, gegen die eine Gegendemonstration gerechtfertigt sei.
Lateinlehrer in der Mittel- und Oberstufe war Herr Dr. Wiemer. Erst spät wurde mir klar, wie schwierig bestimmte Entscheidungen und Verhaltensweisen ihm gegenüber gewesen sein müssen. Herr Wiemer bot in den Sommerferien Fahrradtouren an. An dreien habe ich teilgenommen: in die Lüneburger Heide, in das Fichtelgebirge und andie Nordsee. Sie gehören ohne Einschränkungen zu meinen schönen Erinnerungen.
Eines Tages nach diesen Farten wurde ich in das Bürgermeisteramt in Bortshausen (das gab es damals noch) gerufen. Ein mir unbekannter Mann begann etwas umständlich und fragte mich dann, ob ich wisse, was „homosexuell“ sei. Ich bejahte, obwohl meine Vorstellungen dazu mehr als vage waren. Daraufhin wurde ich mit der Aussage konfrontiert, jemand habe beobachtet, wie ich homosexuellen Kontakt mit Herrn Wiemer gehabt habe. Ich war empört, dass so etwas erfunden werden konnte. Nach meiner Schulzeit erfuhr ich von Herrn Luther, dass Herr Wiemer wegen Problemen in dieser Richtung seine frühere Schule verlassen hatte (oder verlassen musste) und auf seine besondere Verantwortung von Herrn Luther hingewiesen worden war. Vielleicht machte sich jemand Sorgen (Fahrten mit minderjährigen Schülern) und wollte uns nur schützen? In der Oberstufe wechselte Herrn Wiemers Verhalten von anregend bis apathisch. Dass er an Tablettensucht litt, sagte mir sein Bruder nach seinem Tod. Auch nach der Schulzeit hatte ich Kontakt zu ihm gehalten.
Der Traum meines Vaters wäre ein Besuch Griechenlands gewesen. Mit dreizehn Jahren hatte er nach dem frühen Tod seines Vaters, das Gymnasium verlassen müssen, um mitzuhelfen, die Familie zu ernähren. Altgriechisch hat er sich –bis zu welchem Kenntnisstand weiß ich nicht– selbst beigebracht. Als junger Mann war er als Vertreter der Holzwarenfabrik, in der er arbeitete, in London und hatte dort antike griechische Münzen erworben, an denen sein Herz hing. Zu Beginn der Untertertia fuhr er zum ersten Mal zu einem Elternsprechtag. Wir hatten gerade die erste Griechischarbeit geschrieben. Dabei hatte ich mit einem „ausreichend“ alles andere als geglänzt. Herr Pirrung meinte zu meinem Vater (nach Prüfung seines Notizbuchs; er war gerade Klassenlehrer geworden), die mittlere Reife könne ich schaffen, an Abitur sei nicht zu denken. Mein Vater kam nie wieder zu einem Elternsprechtag, ich schrieb nie wieder eine „vier“ in Griechisch. Als Lehrer habe ich bei Elternsprechtagen immer betont, dass unsere Prognosen eine gewisse Wahrscheinlichkeit haben mögen, aber nie sicher sein können. Griechisch liebte ich von Anfang an. Herr Dr. Seitz hat hervorragende Grundlagen gelegt. Später war er mein Ausbilder. Es kam nie vor, dass ich einen Hinweis von ihm als unberechtigt empfunden hätte. Seine Kompetenz und seine absolute Integrität zusammen mit seinen pädagogischen Fähigkeiten machen ihn für mich zum Idealbild eines Lehrers. In der Oberstufe war Herr Dr. Wolff mein Griechischlehrer. Der Kontakt zu ihm dauerte über die Schulzeit an.
Ich hatte Griechisch als Studienfach gewählt, in der Hoffnung, dass durch dieses Fach Türen in verschiedene Richtungen geöffnet würden. Meine Erwartung wurde nicht enttäuscht. Natürlich kann an der Schule nicht alles unterrichtet werden, was von Bedeutung ist. Gerade in den Naturwissenschaften nimmt die Stofffülle rasant zu. Und es muss auch die Möglichkeit vorhanden sein, Dinge zu lernen, die eigenen Fähigkeiten und Interessen entsprechen. Es wäre aber nach meiner Überzeugung ein in seiner Bedeutung kaum zu überschätzender Verlust für eine Gesellschaft, wenn es keine Menschen mehr gäbe, die eine unmittelbare Verbindung zu den Grundlagen der europäischen Kultur haben. Mir selber ist mit jedem Jahr deutlicher geworden, wie sehr wir mit unserer Kultur und unserem Denken den Griechen verpflichtet sind, in Sport und Philosophie, Theater und Logik, Dichtung und Geographie, Mathematik, Physik und Geschichtsschreibung, Biologie und politischem Grundlagenwissen. Ich glaube, dass dabei in besonderer Weise das freie Denken, die große Faszination ausübte, die in der Renaissance Europa so stark beeinflusst hat.
Die Schule und wichtige Lehrer haben diese Welt ein stückweit für mich geöffnet. Dafür bin ich dankbar.