Als plastischer Chirurg in Entwicklungsländern

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Unter dem Einfluß der humanistischen Schulung im Gymnasium Philippinum und einer reichlichen Anzahl von Ärzten in der Familie reifte mein Wunsch, Medizin zu studieren. Der Biologie/Chemie-Unterricht von Herrn Kellner und häufige Besuche bei der Familie meines Mitschülers Karlson beflügelten meine wissenschaftliche Neugier. Die Patienten meines Vaters – häufig Querschnittsgelähmte oder Polio-Opfer – zeigten mir den Sinn humanitärer Fürsorge. Noch während des letzten Schuljahres wurde ich in die Versorgung von Studenten im Rollstuhl eingebunden. In Eigeninitiative wurden 3 Studenten vom Aufstehen bis spät abends versorgt, in die Vorlesungen gebracht, barrierefreie Zugangswege zu den Instituten mit „Bordmitteln“ geschaffen und Öffentlichkeitsarbeit geleistet.
Heute gehören diese Studentinnen und Studenten zum Stadtbild Marburgs. Es war gelungen, 1969 das Konrad- Biesalski-Haus in der Sybelstraße als erstes Studentenheim dieser Art in Deutschland zu eröffnen. Barrierefreies Wohnen und Studieren war bis dahin unvorstellbar gewesen.
Nachdem ich 1966 den begehrten Medizin-Studienplatz ergattert hatte, führte mich mein erstes Krankenpflegepraktikum in die Marburger Universitäts-Augenklinik, wo ich beim Vater meines Mitschülers Lorenz Neubauer fantastische und innovative Operationen erleben konnte.

Bei weiteren Praktika und Famulaturen lernte ich das Leid der Familien mit Contergankindern kennen, jedoch auch die enormen Fähigkeiten, die diese Kinder mit verstümmelten Armen unter geschulter Anleitung entwickeln konnten.
In der Medizin fand ich die Kombination aus dogmafreier Naturwissenschaft und globaler Philantropie, die der humanistischen Ausrichtung unserer Schule entsprach.

Während meines Staatsexamens an der Universität Freiburg habe ich mich um ein Auslands-Stipendium beworben und konnte 1973/74 für mehrere Monate in der medizinischen Entwicklungshilfe in Bolivien mitarbeiten und Studien durchführen: Für einen jungen Arzt unglaubliche Erfahrungen und Eindrücke.
Ich lernte die Kupferminenarbeiter des Altiplano kennen, die unter Extrembedingungen für einen Hungerlohn arbeiten und eine durchschnittliche Lebenserwartung von weniger als 30 Jahren hatten. Ganze Regionen in den Anden oder auch im tropischen Osten des Landes waren ohne jegliche ärztliche Versorgung. Hilfsprogramme von Terre des hommes oder Caritas waren bemüht, Gesundheitserziehung und Hygiene einzuführen. Chinesische „Barfußmedizin“ war dort schon das höchste Niveau.

Während einer Reise entlang der Panamericana (Traumstrasse der Welt) geriet ich in das Epizentrum des schwersten Bebens, das in Guatemala im Februar 1976 ca 28000 Todesopfer forderte. Ich hatte großes Glück zu überleben und war in der 95% zerstörten Stadt Comalapa für eine Woche lang der einzige, der ärztliche Hilfe leistete, bevor ein erster Helikopter eintraf. Mit wenigen medizinischen Hilfsmitteln, die sich in einer verschütteten Apotheke finden ließen, konnte ich auch nur wenig erreichen, hatte aber auf dem Platz vor der Kathedrale über 50 Schwerstverletzte liegen.

Von diesen Erlebnissen geprägt, traf ich nach dem Ende meiner chirurgischen Weiterbildung auf den bekannten Plastischen Chirurgen Prof. Gottfried Lemperle, der mir in seiner Klinik am Markus-Krankenhaus in Frankfurt eine Stelle als Assistenzarzt anbot und gerade auch von einer Hilfsaktion in Ecuador zurückgekehrt war. Zusammen mit anderen humanitär Gesinnten wurde im Dezember 1980 der gemeinnützige Verein INTERPLAST-Germany gegründet.

Das Ziel war es, Menschen in Entwicklungsländern mit angeborenen Fehlbildungen, schweren Verbrennungsfolgen oder anderen verstümmelnden Erkrankungen durch plastisch-chirurgische Eingriffe zu einer wesentlichen Verbesserung der Lebensqualität zu verhelfen.
In kürzester Zeit hatten zahlreiche Plastische Chirurgen nicht nur in Deutschland diese Idee aufgegriffen und sind in Eigeninitiative mit Teams aus Chirurgen, Anästhesisten und Pflegekräften in die ärmsten Länder gereist, um in ihrer Urlaubszeit diese Aufgabe zu erfüllen.

Bis heute sind allein durch 1200 Teams von INTERPLAST-Germany über 85000 Menschen operiert worden. Dazu kommen unzählige Einsätze von INTERPLAST-Türkei, Frankreich, Großbritannien, Schweden, Italien und nahezu allen europäischen Ländern.
Mein erster INTERPLAST-Einsatz führte 1985 nach Indien, in die Nähe von Bhopal, wo kurz zuvor bei der bisher größten Chemiekatastrophe der Welt durch Methylisocyanat eine halbe Million Menschen verletzt worden waren.

Es folgten mehrere Einsätze in Ghana, Togo und Tansania, wo es vor allem Kinder mit Tumoren und Infektionskrankheiten, aber auch schwerste Verbrennungen und andere Unfallverletzungen zu behandeln galt.
Ein besonders beeindruckender Hilfseinsatz brachte mich in Kalkutta in ein Krankenhaus von Mutter Theresa, die unsere Arbeit über viele Jahre unterstützt hat. Die Armut, der Hunger und die Hilflosigkeit der Kinder von Kalkutta sind unvorstellbar, wenn man sie nicht mit eigenen Augen gesehen hat.

Ab 2001 habe ich mit Kollegen in Paraguay ein kontinuierliches Programm für Indiokinder mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten initiiert, das jetzt auf 15 Jahre effektiver Arbeit und über 1000 operierte Kinder zurückblicken kann. Die einheimischen Ärzte und Schwestern waren zu unserer Freude für dieses „Programa sonrisa“ so zu begeistern, dass die meisten Kinder jetzt ohne die Anwesenheit deutscher Ärzte behandelt werden können.
2015 haben wir gemeinsamen mit den Ärzten der Universität Asunción komplizierte mikrochirurgische Transplantationen vorgenommen und somit eine neue Ära der modernen Plastischen Chirurgie in Paraguay initiiert.

Auch auf die Philippinen, nach Vietnam, Kambodscha und Myanmar (Burma) bin ich seit 2003 jährlich mit einem Team gereist, nach Myanmar inzwischen 12 mal. Die Eindrücke, die man bei solchen humanitären Einsätzen in diesen buddhistisch geprägten Ländern gewinnt, weichen sehr von den konformistischen Berichten unserer westlichen Presse ab und öffnen die Augen für Werte, die in unserer hektischen Konsumwelt verloren gegangen sind.

Im Februar 2016 plane ich meinen 6. Hilfseinsatz in der Ukraine. Auch dieses Land am Rande Europas benötigt unsere Hilfe. Den gut ausgebildeten Ärzten mangelt es an medizinischem Material und akademischem Austausch, um ihren Patienten moderne Behandlungsmethoden anbieten zu können. Die Dankbarkeit der Familien unserer kleinen Patienten sind eine wunderbare Entschädigung für manche Entbehrungen und Anstrengungen der Teammitglieder.

Neben unzähligen geheilten und glücklichen Kindern motiviert auch die Möglichkeit, von unserem westlichen Überfluss etwas zurückzugeben an die Benachteiligten und Ausgebeuteten dieser Welt, ihnen die Hoffnung zu erhalten, dass sie nicht ganz vergessen sind. Die aktuelle Tragödie der Flüchtlinge in Europa bekräftigt unsere Anstrengungen, soziale Mißstände in Entwicklungsländern zu bekämpfen und die medizinische Versorgung vor Ort zu verbessern.

Klaus Eckhard Exner (Abitur 1966)

Spenden unter www.pro-interplast.de mit Verwendungszweck Projekte Klaus Exner

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Exner war Dozent für Chirurgie und Plastische Chirurgie an der Goethe-Universität Frankfurt,
vormals Präsident der Deutschen Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktions- und Ästhetischen Chirurgen,
vormals Chefarzt der Klinik für Plastische Chirurgie, Wiederherstellungs- und Handchirurgie am Markus Krankenhaus in Frankfurt.