Der große Unbekannte – der unbekannte Große

Weltkriegsteilnehmer Piscator
„Meine Zeitrechnung beginnt am 4. August 1914. Von da ab stieg das Barometer. 13 Millionen Tote, 11 Millionen Krüppel, 6 Milliarden Geschosse, 50 Milliarden Kubikmeter Gas“, schreibt Piscator 1929 in seiner Programmschrift „Das politische Theater“. Anfang 1915 wird der 21-Jährige eingezogen und verbringt zwei Jahre an der Ypern-Front. Die zumindest anfängliche Kriegsbegeisterung so vieler anderer seiner Generation, wie sie z.B. auch aus den „Kriegsnachrichten Marburger Gymnasiasten“ spricht (s. Chronika 2014), teilt er keinen Moment. Sein Biograph und langjähriger Mitarbeiter schildert Piscators Damaskus-Erlebnis: Mit einem befreundeten Kameraden spielt er Schach im Schützengraben. Es ist ein freundlicher und eher ruhiger Tag. Nur wenige Schüsse fallen. Zwischendurch plaudern sie über Mädchen, der Kamerad muss mal, Piscator hat Zeit über den nächsten Zug nachzudenken. Als sein Freund nach einer Weile nicht wiederkehrt, schaut Piscator im Pissoir des Schützengrabens nach und findet ihn erschossen, das Gehirn über die Wand verspritzt. Er hatte den Kopf ein Stück zu weit über den Grabenrand gereckt.
Wer war der junge Mann, dessen Weltsicht sich hier für immer veränderte? Piscators Leben beginnt am 17. Dezember 1893 in Greifenstein-Ulm bei Wetzlar. Die Familie des Textilhändlers Carl Piscator zieht 1899 nach Marburg, wo Erwin das Gymnasium Philippinum besucht. Für das einschneidende Erlebnis dieser Jahre sorgt das Stadttheater Gießen mit einem Gastspiel. Die Hinrichtungsszene aus „Maria Stuart“ erschüttert ihn dermaßen, dass er nächtelang weint und „beschloss, das muss ich auch erleben. So entstand meine Idee zur Bühne zu gehen.“ Der empfindsame Junge liebt es, sich stundenlang in sein Zimmer einzuschließen und Texte zu rezitieren, darunter auch eigene Gedichte, was ihn nicht daran hindert, schon früh seinen Blick für soziale Ungleichgewichte und Ungerechtigkeiten zu schärfen, wie er sie nicht zuletzt in der Schule beobachten kann. Nach dem Abitur beginnt er ein Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik in München und nimmt Schauspielunterricht. Dann kommt der Krieg. „Was ist da ‚persönliche Entwicklung‘? Niemand entwickelt sich da ‚persönlich‘. Da entwickelt etwas anderes ihn. Vor dem Zwanzigjährigen erhob sich der Krieg. Schicksal. Es machte jeden anderen Lehrmeister überflüssig.“ Piscator macht es zum Marxisten und Pazifisten. Angesichts des sinnlosen Massensterbens kommen ihm seine künstlerischen Ideale lächerlich vor. Statt jedoch dem Theater den Rücken zu kehren, will er nun, dass es sich radikal der Wirklichkeit öffne und sie verändere. Damit wird er für das nächste halbe Jahrhundert der einflussreichste Erneuerer des Theaters, mit und neben Bertolt Brecht.
Das heimatliche Marburg erscheint ihm nach dem Krieg unwirklich, in Berlin stößt er zunächst zu den Dadaisten, die er z.T. schon vom Fronttheater kannte. Die nächsten Jahre sind geprägt von Versuchen, ein proletarisches Theater zu etablieren, ein Volkstheater nicht der harmlos-unpolitischen Art, wie es sich großer Beliebtheit erfreute, sondern der revolutionären. Politisch-ideologische Auseinandersetzungen, unzureichende Finanzen und ein Mangel an geeigneten Stücken behindern immer wieder die Arbeit. Erst an der von Max Reinhardt berühmt gemachten und bürgerlich gewordenen Volksbühne gelingen Piscator Inszenierungen, mit denen er bei einem breiten Publikum und der Kritik für Aufsehen sorgt und in denen er das entwickelt, was als „episches Theater“ in die Theatergeschichte eingegangen ist. Die teils revue-artigen Stücke arbeiten beispielsweise mit Musik, Akrobatik, Projektion und Film. Textprojektionen mit historischen Originalzitaten und -dokumenten, dokumentarische oder eigens produzierte Filmaufnahmen sollen das Bühnengeschehen fortsetzen, kontrastieren, kommentieren und in die Wirklichkeit einbetten, ja, diese in den Theatersaal holen, der zum Versammlungsraum wird; Bühnenfiguren sprechen das Publikum direkt an, die berühmte „vierte Wand“ fällt.
Höhepunkt seines Schaffens in der Weimarer Republik sind die Inszenierungen der Piscator-Bühnen, seiner eigenen Häuser, in denen er nun alle Register der Bühnentechnik zieht. Mehrstöckige Bühnenbilder, Kugelbühnen, Aufzüge und Laufbänder wirken auch auf diesem Feld revolutionär. Die Aufführungen müssen mitreißend gewesen sein: „Das lässt nicht los. Das zwingt standzuhalten, Stellung zu nehmen. Das macht das Ausweichen unmöglich“, konstatiert der berühmte Kritiker Herbert Ihering. Sie sind – kein Wunder, da Piscator seine politische Absicht unbeirrt weiterverfolgte – stets heftig umstritten bis zum Eklat. Und sie sind teuer, sodass die letzte Piscator-Bühne 1931 trotz vollbesetzter Ränge schließen muss.
Piscator emigriert zunächst nach Moskau, um dort Filme zu machen, 1936 nach Paris und 1939 nach New York, wo er im „Dramatic Workshop“ so illustre Schüler wie Marlon Brando, Arthur Miller oder Harry Belafonte ausbildet. 1951 kehrt er unter dem Eindruck der McCarthy-Verfolgungen in den USA schließlich zurück nach Deutschland. Er entscheidet sich für den Westen, auch wenn das zunächst bedeutet, kein festes Engagement anzutreten. Für seine Heimatstadt Marburg gerät dies zu einem Glücksfall. Noch zu seiner New Yorker Zeit knüpft das Marburger Schauspiel, vermutlich vermittelt durch den Schulfreund Erhardt Klonk (der später zahlreiche Kirchenfenster in Hessen schuf), Kontakt zu Piscator. Erfreuliche Folge davon sind nicht nur ‚Care-Pakete‘ mit Lebensmitteln und Zigaretten, sondern auch vier Inszenierungsarbeiten Piscators in Marburg. Der größte Erfolg wird „Nathan der Weise“ 1952. Die technische Ausstattung in den ehemaligen Stadtsälen (unweit der ehemaligen Synagoge, gegenüber dem alten Philippinum in der Universitätsstraße) ist bescheiden, die Bühne in der Art eines Boxrings mit Laufstegen inmitten der Zuschauer baut Klonk. Als Nathan von seinen bei einem Pogrom verbrannten Söhnen erzählt, erscheint auf einem Transparent „7-70-700-7000-70 000-700 0000-7000 000 hoffnungsvolle Söhne verbrannt“. Ein kleines Beispiel der Arbeit Piscators, der bekannte: „Nirgends traf das Erlebnis des Nathan meine Seele wie hier, in der Stadt, in der ich selbst aufgewachsen war und die als streng antisemitisch bekannt war.“ Die Aufführung wird allabendlich mit stürmischen Ovationen gefeiert und ein beispielloser Erfolg, den inklusive 20 Gastspielen 17 400 Zuschauer sehen. Dennoch hat es Piscator im politischen Klima der jungen Bundesrepublik schwer, erneut Fuß zu fassen. Dies ändert sich, als er 1962 an die Freie Volksbühne Berlin berufen wird, wo er Geburtshelfer wegweisender Dokumentarstücke eines Rolf Hochhuth („Der Stellvertreter“) oder Peter Weiss („Die Ermittlung“) wird. Am 30. März 1966 stirbt er nach kurzer Krankheit.
Erwin Piscators Arbeit ist häufig umstritten, Gegenstand von weltanschaulichen wie künstlerischen Auseinandersetzungen gewesen. Seine Wirkung und Bedeutung sind unumstritten. „Ich habe die Literatur, Piscator das Theater dieses Jahrhunderts revolutioniert“, so Brecht in der ihm eigenen Bescheidenheit. Er hat unzählige Impulse aus der Arbeit Piscators und aus der Arbeit mit Piscator bezogen. Was die technische Seite angeht, sind die von Piscator angestoßenen Innovationen aus den Theatern nicht mehr wegzudenken. Und die Frage, welche medialen Kniffe denn der Sache dienen und welche sich verselbständigen, wird auch heute noch und wieder brennend diskutiert. Dokumentarische Theaterformen leben vital im „Theater der Unterdrückten“ Südamerikas oder zeitgenössischen Performancegruppen wie Rimini-Protokoll weiter. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der 1920er oder 1960er Jahre sind nicht mehr die unseren, aber das Theater hat nach wie vor zu entscheiden, wie es sich zu den jeweiligen Zeitläuften stellt.
Das Marburger Schauspiel blieb Piscator bis zum Schluss verbunden, die Stadthalle als Spielstätte erhielt seinen Namen, der auch nach zur Neueröffnung in diesem Jahr dort eingemeißelt ist. Gemeinsam mit dem 50. Todestag sicher Anlass genug und höchste Zeit, dass auch seine ehemalige Schule sich dieses Wegbereiters eines neuen Theaters erinnert.
Eckart Dähnert, Lehrer und Theaterpädagoge