In dieser Schule blieb ich nicht lange, denn inzwischen hatte mein Vater sich doch entschlossen, nach Deutschland zurückzugehen, was er zunächst nicht vorgehabt hatte. Zum WS 1951/52 nahm er einen Ruf an die Universität Mainz an, und wir zogen Sept. 1951 in das völlig zerstörte Mainz, ein Schock! Eine Wohnung fanden wir deshalb nur 10km außerhalb in Bodenheim, ich wurde Fahrschülerin und ohne Aufnahmeprüfung in die Sexta des Altsprachlichen Gymnasiums (heute Rhabanus-Maurus-Gymnasium) aufgenommen. Latein hatte ich mit meiner Mutter, einer promovierten Indologin und Sprachwissenschaftlerin sehr gut nachgelernt, von dem damaligen Vorsprung habe ich lange gezehrt. Wir waren 9 Mädchen, die Koedukation war noch neu. Nach einigen Monaten musste ich mit 3 anderen Mädchen wieder die Klasse wechseln: Der Direktor hatte befunden, dass die Klasse mit Mädchen sich positiver als die Parallelklasse entwickelte, auch der Ton der unterrichtenden Lehrer ein anderer sei, deshalb mussten wir beim Übergang von der Sexta in die Quinta in die Parallelklasse – für mich hieß das: schon wieder neue Klassenkameraden.
Es sollte nicht der letzte Klassenwechsel bleiben: Zum Oktober des gleichen Jahres (1952) folgte mein Vater einem Ruf an die Universität Marburg, wo er schon 1930-32 als Assistent gewesen war und bei Rudolf Bultmann ein Seminar besucht hatte. Nun sollte er – eine wunderbare Herausforderung – sein Nachfolger werden. Für meine 4 Geschwister und mich hieß das: Schon wieder Ort und Schule wechseln! In Marburg kam meine jüngste Schwester Barbara in die 3. Klasse der Otto-Ubbelohde-Schule, meine Schwester Dorothea in die Sexta des Gymnasium Philippinum, das gerade die ersten Mädchen aufgenommen hatte, meine beiden Brüder Werner und Hans kamen in die Untersekunda bzw. Obertertia des Philippinums, sie mussten (aus der französischen Zone kommend) komplett Englisch nachlernen. Ich sollte in die Quinta kommen, aber in der Quinta waren noch keine Mädchen! In eine andere Schule als alle meine Geschwister? Für die Elisabethschule (Mädchenschule) hätte ich Englisch nachlernen müssen und das gerade eben nachgelernte Latein wieder vergessen können. Die Martin-Luther-Schule (damals hieß sie „Realgymnasium“) war eine reine Jungenschule, hatte auch Englisch als 1. Fremdsprache. Das neue Grundgesetz verpflichtete das Philippinum dazu, mich aufzunehmen. So kam ich also als einziges Mädchen unter damals über 40 Jungen. Ich sah keine Schwierigkeiten, hatte zu Hause Brüder, war immer in einer gemischten Klasse gewesen. Wer aber meint, das wäre nun der Himmel auf Erden gewesen, der täuscht sich allerdings: die Jungen waren schon 1 ½ Jahre als Gemeinschaft zusammen, das eine Mädchen war ein Fremdkörper, und die Jungen taten alles, um das „Weib“ wieder raus zu ekeln. Sie wurden leider von einigen Lehrern auch nicht gebremst, die z. T. deutlich der Meinung waren: Mädchen gehören in so eine ehrwürdige 1527 gegründete Schule nicht rein. Kein Wunder, dass ich nicht mehr gerne in die Schule ging. Ich war jedoch finster entschlossen, mich nicht kleinkriegen zu lassen!

allein unter Jungen: die Quinta des Jahrgangs 1953
Ich will nicht alles aufzählen, was die munteren Knaben alles veranstalteten: Sie zogen mir den Stuhl weg, sie spritzten Wasser über meine Hausaufgaben, sie kippten mir Milch über den Kopf, ich war in Prügeleien verwickelt (unter Jungen wohl in dem Alter üblich!), es war nach der Pause Dreck im Ranzen, etc. Als ich eines Tages mein Mäppchen aufmachte, kroch ein Regenwurm raus: Das war zu viel, ich wollte nicht mehr in diese Schule gehen, musste das jetzt doch zu Hause erzählen, was ich hatte vermeiden wollen. Ein umgehender Besuch meines Vaters bei dem damaligen Direktor Kurt Steinmeyer und der Hinweis, dass die Schule dafür zu sorgen habe, dass das Grundgesetz umgesetzt werde, ich also zu Recht in diese Schule gehen dürfe, bewirkte eine Besserung der Situation. Man achtete ab sofort darauf, dass ich in Ruhe gelassen wurde, und mein Klassenlehrer Dr. Kirchner („Kiki“) hat meinen Mitschülern wohl nicht zu knapp die Leviten gelesen. Ich wurde fortan geduldet, gehörte aber zu meinem Leidwesen nicht zu der Gemeinschaft dazu.
Manchen Mitschülern tat ich wohl auch leid: Ein paar Tage später fand ich eine Tafel Schokolade in meinem Ranzen. Darüber habe ich mich sehr gefreut! Geschämt haben die meisten sich aber erst, als ich beim Treffen 2010 zum 50jährigen Abitur davon erzählte. Die Knaben hatten nicht gemerkt, was sie gemacht hatten, einer fand es immer noch gut…….
Im Laufe der Quarta kam eine Mitschülerin dazu: Heidrun Dietl aus Dreihausen, sie blieb aber nicht lange. In der Untertertia kam Gertraud Werner aus Gießen, auch sie verließ die Schule bald wieder. Nur Ursula Dickhaut aus Amöneburg, die vom dortigen Progymnasium zum Philippinum wechselte, blieb schließlich und hat mit mir Abitur gemacht.
In der Untertertia sollte die erste Klassenfahrt stattfinden: Aber es gab nach dem Weggang der Musiklehrerin Hilde Bröcker (später Kupfer) in der Schule keine weibliche Lehrkraft mehr, die als Aufsichtsperson für die Mädchen hätte mitfahren können. Ergo: Die Mädchen sollten daheimbleiben und derweil eine Klasse tiefer in die Schule gehen! Ich fühlte mich sehr diskriminiert und habe das mit Genehmigung meiner Eltern nicht getan, sondern blieb an diesen Tagen einfach zu Hause! Die Schule fragte nicht nach! In der Obertertia hatte die Schule eine Referendarin: Tatjana Lanko kam mit auf Klassenfahrt, damit wir 2 Mädchen auch mitfahren durften.
In der Schule versuchte ich alles, endlich „richtig“ zur Klasse dazuzugehören und machte deshalb allen erdenklichen Blödsinn mit, um anerkannt zu werden. Oft machte ich keine Hausaufgaben mehr, schrieb sie morgens schnell ab, um von meinem Ruf als brave, strebsame Schülerin wegzukommen. Das war gar nicht so leicht und hat auch eigentlich nicht geklappt! (In meiner beruflichen Tätigkeit habe ich so ein Verhalten später öfter erlebt und erkannt.)
Zur Oberstufe wurde die inzwischen auf 31 SchülerInnen geschrumpfte und in ihrer Zusammensetzung ziemlich veränderte Klasse geteilt, ab da wurde es besser. In die OIIb kamen 13 Jungen und die zwei Mädchen, Klassenlehrer wurde der junge Dr. Karl Justus Ehrhardt, für den auch die Klassenfahrten in der Oberstufe ohne weibliche Begleitperson kein Problem darstellten, er hat uns einfach vertraut. Wir haben schöne Klassenfahrten mit ihm gemacht: In der Obersekunda in die Rhön nach Fulda, in der Unterprima wanderten wir mit Rucksack an der Mosel von Koblenz bis Trier. Die Abschlussfahrt (3 Wochen!!) führte uns zunächst ein paar Tage nach München (für den kulturellen Teil der Fahrt), von da ging es zu einer Rundwanderung um den Dachstein, prächtig organisiert von Mitschülern, die Pfadfinder waren oder dem CVJM angehörten. Den Abschluss bildeten ein paar Tage in Salzburg mit Opernbesuch in Wanderklamotten – die Parallelklasse fuhr mit dem Bus nach Rom!
Inzwischen war in der Klasse über mir auch ein Mädchen: Dietgard Lieberknecht, mit der ich mich gut verstand, weil ihre Interessen in meine Richtung gingen: Sie hat als erstes Mädchen 1959 am Philippinum Abitur gemacht. Sie spielte Orgel und ist auch Schulmusikerin geworden.
Als ich in der Obertertia war, kam die Schulleitung auf die Idee, die Mädchen bräuchten endlich Sport- und auch Handarbeitsunterricht. Frau Kappert (eine Fachlehrerin, noch vor 1945 ausgebildet) wurde an die Schule geholt, und mehrere Jahrgänge genossen gemeinsam Unterricht bei ihr. Auf die Weise hatte ich immer mit meinen beiden jüngeren Schwestern zusammen Sport und Handarbeit, natürlich nachmittags zusätzlich. Während des Sportunterrichts der Jungen am Vormittag hatten wir auch da zu bleiben. Die vielen Jahre ohne Sportunterricht in einem für uns Jugendliche wichtigen Alter haben leider ihre Spuren hinterlassen. Den Handarbeitsunterricht hätte ich allerdings nicht gebraucht: Ich hatte in Zürich im 5. Schuljahr schon wöchentlich 6 Stunden Handarbeit und war „fit“ in allen Techniken, konnte Frau Kappert als Hilfskraft zur Seite stehen, während meine Schwester Dorothea mehr unter den Nähmaschinen lag und sie reparierte.
In der Oberstufe hatten wir keinen Handarbeitsunterricht mehr, dafür endlich (aber leider zu spät!) sehr guten Sportunterricht bei Frau Anneliese Queeck vom Institut für Leibesübungen: sie konnte nicht nur alles, sondern hat uns auch an „alles“ dran gelassen, ob es Diskus, Speer, Kugelstoßen oder Hürdenlauf war. Und sie hatte Verständnis für alle, die (wie ich) in Sport nicht so begabt, auch nicht geschult waren und benotete immer den guten Willen mit.
Dann kam das Sportabitur: im Sommer auf dem Sportplatz war das kein Thema, das konnte ich ganz gut, zumal mir mein Mitschüler Horst Pusch seine Spikes geliehen hatte. Aber was würde an den Geräten und beim Bodenturnen passieren – im Beisein johlender Mitschüler?! Ursel Dickhaut hatte ein Attest und ließ mich allein. Verzweifelt versuchte ich, noch etwas zu erreichen, um mich nicht zu sehr zu blamieren. Beim Versuch, so etwas wie einen Handstand hin zu bekommen, fiel ich auf den Kopf, das war zwar schmerzhaft, aber ich hatte auch ein Attest!
Aber noch konnte man nicht sagen, die Koedukation sei rundum geglückt, denn noch immer waren die Mädchen nicht bei allem dabei: Anfangs war selbstverständlich, dass der Schulchor, ein Knabenchor, keine Mädchen aufnahm, im Orchester konnte ich mitspielen. Zu manchen Klassenfesten waren Ursel und ich nicht willkommen. Auch die „Sauftouren“ vor dem Abitur nächtelang mit einem alkoholbeladenen Leiterwagen oder in einer Kneipe, das war natürlich nur etwas für angehende Männer, die dann am nächsten Morgen in diesem Zustand in die Schule kamen. Aber die „Grippeferien“ kurz vor dem Abitur (wir organisierten Krankmeldungen, ergaunerten uns 5 freie Tage, niemand hatte die Grippe) haben wir gemeinsam organisiert. Ein 2. Mal hat es leider nicht geklappt, der Schwindel war aufgeflogen!
Einige Male durfte ich als Aufsichtsperson zu Wandertagen mit Unterstufenklassen mitgehen und bekam dafür frei, das hat mir viel Spaß gemacht.
Die Lehrer stellten sich nur mühsam auf die neue Situation ein: Manch einer nannte uns Mädchen bis zum Abitur wie die Jungen nur mit dem Nachnamen. Unser Deutschlehrer gab bisweilen die Mädchen-Aufsätze seiner Frau zu lesen, um uns besser gerecht zu werden.
Anfang März 1960 war die Schule zu Ende, 56 Jahre ist das Abitur jetzt her!

Abitur 1960
Es hat sich seither viel geändert. Heute sind die Mädchen oft in der Überzahl, Koedukation ist selbstverständlich geworden.
Mein Berufswunsch stand zum Entsetzen der Lehrer und auch meiner Eltern fest: Ich wollte Volksschullehrerin mit Musik als Hauptfach werden, und ich habe mich durchgesetzt, meinen Entschluss nie bereut. Damals jedoch hielt man das für einen sozialen Abstieg!
Da konnte ich einerseits meine vielfältigen sonstigen Interessen alle unter einen Hut bringen, andererseits mich um Kinder kümmern, denen man helfen muss, dass sie nicht am Rande stehen. Mein Fernziel war deshalb die Sonderschule. Dazu wäre ein Aufbaustudium nach dem 2. Staatsexamen nötig gewesen. Da ich jedoch heiratete, mein Mann und ich in der fraglichen Zeit beruflich bereits stark eingebunden waren und zwei kleine Kinder hatten, ist es anders gekommen. Mein letzter Dienstort war weder eine Volks- noch eine Sonderschule, sondern 30 Jahre lang eine große Gesamtschule mit Oberstufe am Stadtrand von Frankfurt, an der ich hauptsächlich Musik unterrichtete, verbunden mit vielen Jugendherbergsaufenthalten, Schulaufführungen, Rundfunk- und CD -Aufnahmen, Lehrgangsarbeit, d.h. mit allem Drum und Dran. Engagement in der außerschulischen musikalischen Laienarbeit, in der Kirchenmusik und diverse Verbandstätigkeiten im pädagogisch-musischen Bereich ergänzten die schulische Arbeit.
Nach meiner Pensionierung kann ich mich wieder mehr der eigenen musikalischen Betätigung u.a. als Geigerin und Bratschistin, Dirigentin und der Herausgabe von Noten für Kinder-Orchester widmen.
Die ersten Schuljahre am Philippinum haben mich sehr geprägt: Den aufmerksamen Blick auf Menschen, die am Rand stehen, denen man helfen muss, habe ich nie verloren.
C’est la vie!
Katharina Mai-Kümmel, Abitur 1960