Was hat Marburg mit Königsberg zu tun, der Hauptstadt Ostpreußens, einer am östlichen Rande Deutschlands gelegenen Provinz, die 1945 untergegangen ist? Als Bindeglied kann man die Heilige Elisabeth sehen, die 1231 in Marburg starb. Der Schwager Elisabeths, Landgraf Konrad von Thüringen, trat 1234 in den Deutschen Orden ein und sorgte dafür, dass das von Elisabeth in Marburg begründete Spital, ihr Grab und das umliegende Land dem Deutschen Orden übereignet wurden. 1235 wurde sie heiliggesprochen; im selben Jahr wurde der Grundstein für die Elisabethkirche gelegt, die der Deutsche Orden über ihrem Grab erbauen ließ. 1226 verlieh Kaiser Friedrich II. dem Orden das Land der heidnischen Pruzzen, Preußen, das der Orden allerdings erst noch erobern musste. 1236 kam der Kaiser nach vielen Jahren der Abwesenheit aus Italien wieder einmal nach Deutschland und ließ am 1. Mai in Marburg die Gebeine Elisabeths feierlich in einen Schrein betten. In Marburg ernannte der Hochmeister des Ordens Hermann von Salza den Ritter Hermann Balk zum Landmeister von Preußen und Livland; von Marburg aus machten sich die Deutschordensritter auf den Weg nach Osten, um dort ihren zukünftigen Ordensstaat zu erobern. 1239 wurde Konrad von Thüringen, der Schwager der Heiligen Elisabeth, als Nachfolger Hermann von Salzas Hochmeister des Deutschen Ordens. Er starb bereits 1240. Im Landgrafenchor der Elisabethkirche befindet sich sein Grabmal, das früheste von allen. Am unteren Rand seines Wappenschildes sieht man das schwarze Ordenskreuz auf weißem Grund.

Kaiser Friedrich entlässt nach Ostpreußen ziehende Deutschordensritter. Foto: Gerhard Oberlik
1255 wurde Königsberg gegründet, die Hauptstadt des Ordensstaates Preußen. Der Orden hatte außerdem Besitzungen an vielen Orten in Deutschland. Die Ballei des Deutschen Ordens in Marburg bestand bis zu seiner Auflösung 1809. Die Komturei und der Fruchtspeicher neben der Elisabethkirche sind die einzigen erhaltenen Gebäude der einst so großen Ordensniederlassung; nur die Namen „Deutschhausstraße“ und „Firmaneiplatz“ erinnern heute noch an die jahrhundertealte Geschichte des Deutschen Ordens in Marburg.
Der letzte Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg, wandelte 1525 auf Anraten Martin Luthers den Ordensstaat in ein weltliches Herzogtum um und führte die Reformation ein. 1527 wurde in Marburg die erste und 1544 in Königsberg die zweite evangelische Universität Deutschlands gegründet. Das Herzogtum Preußen fiel im 17. Jahrhundert an den Kurfürsten von Brandenburg. Kurfürst Friedrich III. ließ sich am 18. Januar 1701 in Königsberg zum König in Preußen krönen. Nachdem durch die polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts die beiden Teilstaaten Brandenburg und Preußen eine Landverbindung erhalten hatten, nannte sein Enkel Friedrich II., der Große, den Gesamtstaat „Königreich Preußen“. Das Volk der Pruzzen, das mit den Litauern verwandt war, gab dem immer mächtiger werdenden deutschen Staate Preußen seinen Namen.
Vor 150 Jahren annektierte Preußen die Stadt, von der aus die Deutschordensritter im 13. Jahrhundert nach Osten aufgebrochen waren. In der „Chronik des Gymnasiums zu Marburg 1833 – 1883“ von Dr. Friedrich Münscher, Gymnasialdirektor (Marburg 1883) wird auf S. 20 über das Schuljahr 1866/7 berichtet: Nachdem Sonnabend den 16. Juni Oberhessen von Königlich Preussischen Truppen besetzt worden war, gelangte am 25. Juni an den Director und das Lehrercollegium ein von Seiten des commandierenden Generals von Beyer erlassener Befehl, den mit der Fortführung der Geschäfte beauftragten Behörden Folge zu leisten. Fast gleichzeitig wurde die Proclamation Sr. Kön. Hoh. des Kurfürsten mitgetheilt, in welcher derselbe alle seine Diener aufforderte, ihre Functionen fortzuführen, und damit die Gemüther beruhigte. — Am 8. October wohnte das Lehrercollegium auf höhere Anordnung der auf hiesigem Markt stattfindenden Feierlichkeit bei, durch welche die Besitzergreifung des Landes durch Seine Majestät den König von Preussen erfolgte. Ein Kurfürstenthum Hessen gab es nun nicht mehr.
In Marburg wurde 1860 der bedeutende Kant-Biograph und Philosoph Karl Vorländer geboren (Abitur am Philippinum 1877). Die Marburger Schule des Neukantianismus (vertreten durch Hermann Cohen und Paul Natorp) verkörpert eine der wichtigsten philosophischen Strömungen am Ende des 19. Jahrhunderts. Nach Marburg an die Philipps-Universität kam 1924 aus Königsberg Hannah Arendt, die später als politische Philosophin weltberühmt wurde. Nach Marburg wurden in den letzten Kriegsmonaten 1945 aus dem Tannenberg-Denkmal in Ostpreußen die sterblichen Überreste des letzten vom deutschen Volk direkt gewählten Reichspräsidenten der Weimarer Republik Paul v. Hindenburg und seiner Frau gebracht, wo sie heute in einer dunklen Ecke der Elisabeth-Kirche links hinter dem Eingang verborgen liegen. So kann man sagen: In Marburg begann und endete die Geschichte Preußens.
Meine Mutter stammt aus Königsberg; alle meine Vorfahren mütterlicherseits sind Ostpreußen. 1945 kamen meine Eltern als Flüchtlinge nach Fronhausen; ich bin 1946 in Marburg geboren. Von Sexta bis Oberprima, von April 1957 bis zum Abitur im Februar 1966 besuchte ich das Gymnasium Philippinum. Ich studierte Jura in Marburg, Berlin und Edinburgh und arbeitete als Justitiar von Tonträgerfirmen in Hamburg, Paris und London. 1995 bin ich mit einer ehemaligen ostpreußischen Gutsbesitzerin, unserer Nachbarin in Marburg, zum ersten Mal in Königsberg gewesen, das seit 1946 Kaliningrad heißt. Seit 2002 fahre ich jedes Jahr dorthin, seit etwa zehn Jahren mehrmals im Jahr. Ich habe immer mehr in die Philosophie Immanuel Kants Eingang gefunden und habe Russisch gelernt. Seit 2008 organisiere ich jedes Jahr zu Kants Geburtstag am 22. April eine Reise nach Königsberg/ Kaliningrad und habe 2011 in Berlin die Gesellschaft „Freunde Kants und Königsbergs e.V.“ gegründet. In Königsberg gab es seit 1805 eine Gesellschaft der Freunde Kants, die von William Motherby und denjenigen anderen Freunden Kants begründet wurde, die im Jahr vor Kants Tod (1804) mit ihm seinen letzten Geburtstag gefeiert hatten. Einige direkte Nachkommen dieser Freunde sind Mitglieder unserer Gesellschaft. Gemeinsam mit russischen Kant-Freunden versammeln wir uns jedes Jahr zu Ehren des bedeutendsten Philosophen der Neuzeit in seiner Heimatstadt beim traditionellen „Bohnenmahl“. Berichte über unsere Kant-Reisen und sonstigen Aktivitäten stehen auf der Webseite unserer Gesellschaft: www.freunde-kants.com
Ein wesentliches Ziel unserer Gesellschaft ist es, an den Orten, an denen Kant gelebt hat, an ihn zu erinnern. Immanuel Kant ist am 22. April 1724 in Königsberg geboren und am 12. Februar 1804 ebenda gestorben. Er ist fast 80 Jahre alt geworden und hat seine Heimatstadt bis auf wenige Jahre als Hauslehrer in der ostpreußischen Provinz nie verlassen. Königsberg, das heutige Kaliningrad ist deshalb der wichtigste Kant-Ort. Es gibt dort derzeit die folgenden Kant-Gedenkstätten:
das Kant-Grabmal am Königsberger Dom;
das Kant-Museum im Turm des Doms;
das Kant-Denkmal von Christian Daniel Rauch vor dem Gebäude der Neuen Universität am früheren Paradeplatz, das am Ende des Zweiten Weltkriegs verschwand und 1992 nach einem Modell neu gegossen wurde;
ein Kant-Zimmer im Gebäude der neuen Universität;
eine Gedenktafel am unteren Lenin-Prospekt (früher vorstädtische Langgasse) an der Stelle, wo Kants Geburtshaus stand;
eine Nachbildung von Hut und Stock Kants auf einer Steinbank an der Stelle (neben dem Ozeanmuseum), bis zu der Kant seine gewöhnlichen Spaziergänge gemacht haben soll;
eine Tafel mit dem bekannten ersten Satz des Beschlusses der Kritik der praktischen Vernunft auf Deutsch und Russisch an der Schlossmauer, dem einzigen Überrest des Königsberger Schlosses.
Es ist geplant, die Stelle zu bezeichnen, an der Kants Wohnhaus stand. Diese Stelle – die sich etwa gegenüber dem jetzigen Hotel „Kaliningrad“ befindet – soll genau vermessen und die Lage des Hauses durch einen Umriss auf dem Straßenpflaster, vielleicht auch durch einen Gedenkstein kenntlich gemacht werden.
Etwa im Zeitraum von 1747 oder 1748 bis 1754 hat Kant als Hauslehrer außerhalb von Königsberg gelebt. Der erste Biograph Kants, Ludwig Ernst Borowski, schrieb in seiner Biographie, die Kant selbst noch gelesen und an manchen Stellen korrigiert hat: „Der stille ländliche Aufenthalt diente ihm zur Förderung seines Fleißes. Da wurden schon in seinem Kopfe die Grundlinien zu so manchen Untersuchungen gezogen, manches auch beinahe vollständig ausgearbeitet, womit er, wie wir weiter unten anzeigen werden, in den Jahren 1754 u. f. zur Überraschung vieler, die das von ihm, wenigstens nicht in dem Maße erwartet hatten, auf einmal und schnell aufeinander hervortrat. Da sammelte er sich in seinen Miszellaneen aus allen Fächern der Gelehrsamkeit das, was ihm fürs menschliche Wissen irgend erheblich zu sein schien – und denkt heute noch mit vieler Zufriedenheit an diese Jahre seines ländlichen Aufenthalts und Fleißes zurück.“ (Ludwig Ernst Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants – Von Kant selbst genau revidirt und berichtigt“, Königsberg 1804 // Immanuel Kant, Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, hrsg. von Felix Gross, Darmstadt 1993, S. 14)
Die Orte, an denen sich Kant außerhalb von Königsberg aufgehalten oder die er besucht hat, sind nicht nur wegen seiner Anwesenheit dort von Bedeutung. Manche Orte lassen sich auch mit bestimmten Werken Kants in Beziehung bringen, an denen er dort gearbeitet hat. Kant konnte sein großes Wissen nur dadurch erwerben, dass er – besonders in jungen Jahren, also auch während seiner Hauslehrertätigkeit – immer weiter lernte und nachdachte. Ohne Zweifel öffnete er sich dabei auch der ihn umgebenden Natur und lernte die Menschen kennen, mit denen er zusammenlebte. Die Orte, an denen sich Kant aufhielt, sind deswegen Gedenkorte nicht nur seines Lebens, sondern auch seiner Lehre.
Von 1747 bis 1750 oder von 1748 bis 1751 war Kant Hauslehrer bei dem reformierten Prediger Daniel Andersch in Judtschen (ab 1938 Kanthausen, ab 1946 Weselowka). Das Pfarrhaus, in dem Kant wohnte, ist zweimal grundlegend umgebaut und erweitert worden. Die rechte Seite des heute vorhandenen Hauses und der darunterliegende Keller stammen jedoch noch aus dem ursprünglichen Bau. Das Haus ist verfallen. Es soll als Kant-Gedenkstätte wieder aufgebaut werden, in dem sich ein Kant-Museum sowie ein wissenschaftliches Konferenzzentrum befinden. Weiterhin ist an eine völkerkundliche Dauerausstellung gedacht, die über die Geschichte der Einwanderer in diesen Teil Ostpreußens im frühen 18. Jahrhundert (Franzosen, Schweizer, Salzburger usw.) informiert. Dadurch kann dargelegt werden, dass Kant, der Ostpreußen nie verlassen hat, in Judtschen mit Menschen aus verschiedenen Nationen in Berührung gekommen ist und aus diesen persönlichen Begegnungen seine Kenntnisse über die verschiedenen Nationalcharaktere gewonnen hat.
Aus Judtschen hat Kant am 23. August 1749 einen Brief (vermutlich an Albrecht v. Haller) geschrieben, in dem er mitteilt, der bereits 1746 begonnene Druck seines Werkes „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte“ sei nun beendet; er kündigt außerdem an, bald ein weiteres Werk vorlegen zu wollen. Daraus ergibt sich klar, dass Kant während seiner Abwesenheit aus Königsberg weiterhin schöpferisch tätig war. Wer jetzt nach Judtschen/Weselowka kommt, besucht den Ort, an dem Kant seine frühesten Schriften konzipiert und verfasst hat. Es dürfte übrigens kein Zufall sein, dass Kant sich – auf dem Lande lebend – in seinen ersten Schriften vorrangig mit der Naturgeschichte beschäftigt hat.
Von 1750 oder 1751 bis 1754 war Kant in Groß-Arnsdorf (heute Jarnoltowo/Polen) Hauslehrer bei dem Rittergutsbesitzer Bernhard Friedrich v. Hülsen (einem Vorfahren von Ernst v. Hülsen, der ab 1920 Kurator der Philipps-Universität Marburg war). Das Gutshaus ist 1945 abgebrannt. An der alten Schule wurde 1994 eine Gedenktafel angebracht, die an den Aufenthalt Kants erinnert. In dem Ort haben Einwohner ein Mini-Kant-Museum eingerichtet und das Museum Stadt Königsberg in Duisburg gebeten, Ausstellungsmaterialien zur Verfügung zu stellen. Der Ort ist von den Einwohnern des Kaliningrader Gebiets im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs und von Deutschen ohne Visum zu erreichen.
Hat Kant nach seinem Aufenthalt in Groß-Arnsdorf noch an einem anderen Ort als Hauslehrer gearbeitet? Bei dem Trauerakt der Königsberger Universität Albertina am 23. April 1804 sagte Professor Samuel Gottlieb Wald, Kant sei nach seinem Aufenthalt im Hause v. Hülsen noch zu dem „Grafen Kayserling in Condition“ gegangen. Graf Johann Gebhard Keyserlingk (1699 -1761) lebte mit seiner Frau Caroline Charlotte Amalie geb. Gräfin Truchseß-Waldburg und zwei Söhnen, die 1745 und 1747 geboren wurden, auf Schloss Rautenburg (Kreis Tilsit-Niederung). Wie Karl Vorländer in seinem Werk „Kants Leben“ ausführt, ist es jedoch unwahrscheinlich, dass Kant sich an diesem Ort aufgehalten hat. Es scheint so zu sein, dass er von Königsberg aus in den Jahren 1754/1755 einen jungen Grafen Keyserlingk auf dem unweit von Königsberg gelegenen Schloss Waldburg-Capustigall unterrichtet hat. Kants späterer Freund und Kollege Christian Jacob Kraus schrieb 1804 an Prof. Wald, Kant habe ihm erzählt, er habe „in einem gräflichen Hause unweit Königsberg die Erziehung, die er zum Teil mit von Königsberg aus (als Magister, wenn ich nicht irre) besorgen“ helfen, und zwar sei er „regelmäßig alle Woche ein- oder ein paarmal nach dem Gräflich Truchseßschen Gute Capustigall abgeholt worden, um da … den Grafen, der noch lebt, zu unterrichten“ (zitiert bei K. Vorländer, Kants Leben, S. 35/36). Das Schloss Waldburg/Capustigall (1945 zerstört) kann also ebenfalls als Kant-Ort bezeichnet werden.
Der Sohn des letzten Schlossherrn, Hans Graf zu Dohna, schrieb: „Waldburg ist nach dem Kriege nicht mehr neu besiedelt worden. Die Ortschaft blieb als Trümmerfeld liegen. Nur der Park überstand den Krieg und dehnte sich im Laufe der Zeit zu einer düsteren Wildnis aus.
1990 interessierten sich russische Familien aus Kaliningrad für Waldburg. Sie bauten mit Hilfe der umher liegenden Trümmer auf den Fundamenten des ehemaligen Kutscherhauses ein Gebäude, das sie seitdem zu gemeinschaftlichen Treffen benutzen. Dabei studieren sie die Lehren des russischen Malers und indisch inspirierten Philosophen Nikolai Konstantinowitsch Roerich (1874-1947) und suchen dessen Erkenntnisse in ihrer Gemeinschaft zu verwirklichen. Mittlerweile gibt es freundschaftliche Kontakte mit ihnen und sie bemühen sich, den untergegangenen Ort und den Park im Rahmen ihrer bescheidenen Mittel als „historischen Platz“ zu erhalten. Weil Waldburg nach dem Krieg nicht mehr bewohnt war, hat es nicht, wie sonst alle anderen dortigen Ortschaften, einen neuen russischen Namen bekommen. Am Eingang zum Park ist ein Schild an einen Baum genagelt, auf dem in kyrillischer Schrift „Park Waldburg“ zu lesen ist.“ (Hans Graf zu Dohna, Waldburg-Capustigall, Ein ostpreußisches Schloss im Schnittpunkt von Gutsherrschaft und europäischer Geschichte, Limburg 2009, S. 138/139)
Der große russische Maler, Schriftsteller, Wissenschaftler und Humanist Nikolai Konstantinowitsch Roerich hat ähnlich wie Immanuel Kant für eine Welt-Friedensordnung gekämpft und sich dafür eingesetzt, ein internationales Abkommen abzuschließen, das dem Schutz von Kulturgütern dienen sollte. Am 15. April 1935 führten seine Bemühungen zum Erfolg: Im Weißen Haus in Washington, in Anwesenheit von Präsident Franklin D. Roosevelt, unterzeichneten die Vertreter der USA und zwanzig lateinamerikanischer Staaten den „Vertrag über den Schutz künstlerischer und wissenschaftlicher Einrichtungen und geschichtlicher Denkmäler“, der allgemein als „Roerich-Pakt“ bezeichnet wird. Der Pakt sieht vor, dass geschichtliche Denkmäler, Museen, Bildungs-, Kunst-, wissenschaftliche und andere Kultureinrichtungen im Falle eines Krieges als neutral anzusehen sind und geschützt werden müssen.
Wenn die Kant-Orte im Kaliningrader Gebiet wiederhergestellt werden, entspricht das auch den Forderungen von Nikolai Roerich. Die Gesellschaft der Freunde Kants und Königsbergs hat deshalb vorgeschlagen, den Park des ehemaligen Schlosses Waldburg-Capustigall als eine Immanuel Kant und Nikolai Roerich gewidmete Stätte wiederherzustellen und zu pflegen.
Ein weiterer wichtiger Kant-Ort ist das Rittergut Groß-Wohnsdorf (seit 1946: Kurortnoje) der Kant-Freunde Friedrich Leopold und Carl Wilhelm Freiherr von Schrötter. In seiner im Todesjahr Kants 1804 veröffentlichten Biographie „Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund“ schrieb R.B. Jachmann im 13. Brief: „Mir ist nur ein einziges Haus bekannt, das in meilenweiter Entfernung von Königsberg sehr oft auf mehrere Tage von unserm Weltweisen besucht worden ist und wo er sich so ganz nach seinem Geschmack glücklich gefühlt hat, nämlich das väterliche Haus des Ministers und Kanzlers v. Schrötter zu Wohnsdorf. Kant wußte nicht genug zu rühmen, welche Humanität in diesem Hause seines Freundes geherrscht habe und mit welcher ausgezeichneten Freundschaft er von dem vortrefflichen Mann, gegen den er noch im Alter die größte Hochachtung hegte, stets aufgenommen worden ist. Besonders versicherte er hier die angenehmste ländliche Erholung gefunden zu haben, weil sein humaner Gastfreund ihn nie eingeschränkt habe, ganz wie in seinem eigenen Hause, nach seinem Geschmack zu leben.“
Kants Schüler E. A. Ch. Wasianski schrieb in seinem ebenfalls 1804 veröffentlichten Buch „Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren“: „Mit fast poetischer Malerei, die Kant sonst in seinen Erzählungen gerne vermied, schilderte er mir in der Folge das Vergnügen, welches ein schöner Sommermorgen in den frühern Jahren seines Lebens ihm auf einem Rittergute, in der dort befindlichen Gartenlaube an den hohen Ufern der Alle, bei einer Tasse Kaffee und einer Pfeife gemacht hatte. Er erinnerte sich dabei der Unterhaltung in der Gesellschaft des Hausherrn und des Generals von L., der sein guter Freund war. Alles war dem Greise so gegenwärtig, als wenn er jene Aussicht noch vor sich hätte, jene Gesellschaft noch genösse. Um ihn recht zu erheitern, durfte man nur zuweilen dem Gespräche eine Wendung auf diesen Gegenstand geben, so war er sogleich wieder heiter und froh.“
Kant machte in den Jahren 1763 bis etwa 1775 dort mehrere Besuche. Das Herrenhaus Groß Wohnsdorf (erbaut in der Mitte des 19. Jahrhunderts) und das umliegende Gelände sind heute in Privatbesitz. Der Ordensturm aus dem 14. Jahrhundert und das Gelände der alten Ordensburg gehören dagegen dem russischen Staat. In dem Ordensturm wohnte seinerzeit Friedrich Leopold Freiherr v. Schrötter. In einer Laube vor dem Toreingang des Turms saßen Friedrich Leopold von Schrötter und sein Vater Friedrich Wilhelm von Schrötter (1712 – 1790) bei Tabakspfeife und Kaffee im Gespräch mit Immanuel Kant.
Die „Freunde Kants und Königsbergs“ und die Kant-Universität Kaliningrad denken daran, den Ordensturm als bedeutendes Baudenkmal wiederherzustellen. In ihm könnte ein Museum eingerichtet werden, das Immanuel Kant und Friedrich Leopold v. Schrötter sowie seiner Familie gewidmet ist. Das Gutshaus und die Nebengebäude könnten eine deutsch-russische und internationale Begegnungsstätte werden, wo Tagungen über die Philosophie Kants, das Verhältnis zwischen Russland, Deutschland und Europa oder die Entwicklung des Kaliningrader Gebiets im Verhältnis zu Europa und Russland stattfinden. In der Nähe von Wohnsdorf liegt die noch weitgehend unzerstörte kleine Stadt Friedland (heute Pravdinsk); dort befinden sich mehrere Denkmäler aus der Zeit der Schlacht von Friedland 1807, die in deutscher und russischer Sprache daran erinnern, dass Russen und Deutsche damals Verbündete waren.
Ein weiterer Kant-Ort ist das Forsthaus Moditten, wo Kant bei seinem Freund, dem Forstmeister Michael Wobser (1724 – 1795) zu Besuch war. Dort verfasste er die Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen. Auch Kants Freunde Green, Motherby und Ruffmann, alles Kaufleute, waren bei Wobser zu Gast. Geschlafen hat Kant im Forsthaus. Dicht daneben lag ein kleines Häuschen, das Kant zum Arbeiten diente. Das einfache Fachwerkhaus, eingeschossig und fast quadratisch errichtet, wurde später zur Erinnerung an Kants Aufenthalt zum „Kant-Häuschen“ ausgebaut. In seinen Räumen hingen Reproduktionen von Darstellungen des Philosophen, in Vitrinen lagen Handschriften und Urkunden. Im größten Raum stand ein Abguss der Büste Kants von Hagemann, die dieser 1801 fertigte.
Das Kant-Häuschen ist im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Es dürfte nicht schwierig sein, den einfachen Fachwerkbau nachzubauen. Der Platz um das Kant-Häuschen könnte neu angelegt und zu einem kleinen Park ausgestaltet werden. Dieser Ort könnte vorzugsweise der Schrift Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen gewidmet werden.
Im Winter 1765/1766 besuchte Kant seinen Freund, den General Daniel Friedrich von Lossow auf dessen Gut bei Goldap. Von dort aus schickte er die Druckfahnen seines Werks Träume eines Geistersehers an seinen Verleger Johann Jacob Kanter. Die Stadt Goldap gehört heute zu Polen. Das frühere Gut des Generals von Lossow liegt dagegen auf der russischen Seite der Grenze: Kleschauen/Kutusowo. Das Gutshaus soll angeblich von den neuen russischen Besitzern im alten Stil aufgebaut werden. In dem neu aufgebauten Gutshaus könnte ein Kant-Zimmer eingerichtet werden, das insbesondere Kants Schrift Träume eines Geistersehers und den Schriften Emanuel Swedenborgs gewidmet ist.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat bei einem Treffen mit Dozenten und Studierenden der Kant-Universität dazu aufgefordert, den Namen Immanuel Kants zum Symbol nicht nur der Universität und der Stadt Kaliningrad/Königsberg, sondern des ganzen Kaliningrader Gebiets zu machen. Dieser Vorschlag würde verständlich, wenn man darlegen könnte, dass Kants Heimatland Ostpreußen, das er nie verlassen hat, auch den Inhalt von Kants Werken beeinflusst hat. Das wird von den Herausgebern der ersten Gesamtausgabe von Kants Werken K. Rosenkranz und F.W. Schubert bejaht: „Indessen begreifen wir recht wohl, dass Kants Philosophie nur dann recht verstanden werden kann, wenn man sie in ihrem Zusammenhange mit der Geschichte des vorigen Jahrhunderts und in dem speciellen Zusammenhange mit der literarischen Cultur Ostpreussens und Königsbergs insbesondere erkennt“. (Immanuel Kants Sämmtliche Werke, hrsg. von Karl Rosenkranz und Friedr. Wilh. Schubert, Erster Theil, Leipzig 1838, S. XXIV)
In seiner „Geschichte der Kantschen Philosophie“ leitet Rosenkranz die preußische Neigung zur Philosophie direkt aus der Landschaft ab: „Preussen überhaupt ist ein schon von Natur zur Cultur des Gedankens berufenes Land. In einem schon sehr winterlichen Klima eine weite Ebene, hier und da von Hügelreihen durchzogen, von einer Menge von Landseen belebt, von mächtigen Strömen durchschnitten, von Haidekraut, Laub- und Nadelhölzern überwachsen, oder ganz und gar durch Sand und Geschiebe … an den trocken gelegten Meeresgrund erinnernd, fordert es gleichsam die Reflexion heraus. Ein Preusse, Copernicus, war es, welcher die Erde für unser Bewusstseyn in ihren rechten Himmelsort eingliederte. Ein Preusse, Kant, war es, der die alte Weltanschauung revolutioniren half und im Selbstbewusstseyn des Menschen die so lange ausserhalb gesuchte Sonne des Geistes auch für die Philosophie aufgehen liess“. (Karl Rosenkranz, Geschichte der Kant’schen Philosophie, in: Immanuel Kants Sämmtliche Werke, hrsg. von Karl Rosenkranz und Friedr. Wilh. Schubert, Zwölfter Theil, Leipzig 1840, S. 98/99)
Wie Plato in der Antike, so ist Kant in der Neuzeit als Philosoph von Bedeutung für die ganze Welt. Seine Werke hat er (mit Ausnahme einiger kleiner lateinischer Schriften) auf Deutsch verfasst. Sein Erbe wird in Deutschland besonders gepflegt. Der Wiederaufbau und die Ausgestaltung der Kant-Orte im Kaliningrader Gebiet sollten deshalb in enger Zusammenarbeit mit deutschen Kantforschern, Gesellschaften und Universitäten geschehen. Vor allem aus Deutschland können die Dokumente, Bilder, Bücher, Reproduktionen und andere Materialien kommen, die in dem geplanten Museum in Judtschen/ Weselowka und an anderen Kant-Orten ausgestellt werden können.
Der Wiederaufbau der Kant-Orte eignet sich hervorragend als Projekt für deutsch-russische und internationale Jugendarbeit. Praktische Arbeiten könnten mit einer Einführung in die Werke Kants verbunden werden, wobei man sich bei jedem Ort auf die Werke konzentrieren könnte, die mit dem jeweiligen Ort in Beziehung stehen. Der Wiederaufbau der Kant-Orte soll dem Deutsch-Russischen Jugendwerk für das Programm des Russisch-Deutschen Jugendaustauschs vorgeschlagen werden.
Da Kant als Philosoph für die ganze Welt Bedeutung hat, sollten auch Kantforscher und Institutionen aus anderen Ländern zur Mitarbeit an dem Wiederaufbau der Kant-Orte eingeladen werden. Man könnte auch daran denken, den Kant-Forschern und Kant-Gesellschaften aus bestimmten Ländern die Patenschaft für einzelne Kant-Orte zu übertragen, z. B. den Schweden die Patenschaft für Kleschauen/Kutusowo mit dem Schwerpunkt auf Kants Schrift „Träume eines Geistersehers“ und die Schriften Emanuel Swedenborgs und den Franzosen die Patenschaft für das Forsthaus Moditten und die Schrift „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen“. Auf diese Weise würde man sowohl Kant-Forscher als auch Touristen aus verschiedenen Ländern in das Kaliningrader Gebiet ziehen. Die Gesellschaft „Freunde Kants und Königsbergs e.V.“ wird sich bemühen, das Projekt des Wiederaufbaus der Kant-Orte international bekanntzumachen.
Gerfried Horst, Abitur 1966
Vorsitzender der Gesellschaft Freunde Kants und Königsbergs e.V.